Schwätzen und Schlachten

einer.
    Er kurbelte das Fenster runter, streckte den Kopf hinaus, wir sind gleich so weit. Mein Freund besucht derzeit einen Meditationskurs, das sind so Hausaufgaben, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, Stresssituationen einfach veratmen, Gelassenheit und so, er braucht das für seine Entwicklung.
    Wenn er nicht innert Sekunden die Fliege macht, der Automobilist –
     
    Automobilist, monierte mein Lektor, wieso so etepetete, das ist doch der –
    Olaf, sagte ich, ich beugte mich über den Teller mit seinem halb verzehrten Stück Apfelkuchen, ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, nicht mit dem Zaunpfahl zu winken.
    Wer redet von Winken, er schaufelte eine Gabel voll Schlagsahne auf den Kuchen und steckte sich einen Bissen in den Mund, unser lieber Leser ahnt doch sowieso schon, dass –
    Meinst du?, sagte ich, ich meine, Stanjic und Sydow haben zu dem Zeitpunkt noch keinen blassen Schimmer.
    Ja sicher, weil sie beschränkt sind, sagte er, er wischte sich mit der Serviette über den Mund, weil sie ein bisschen ballaballa sind.
     
    Das sagt man heutzutage überhaupt nicht mehr, behauptete Sydow.
    Hä? Stanjic warf ihm einen verdatterten Blick zu.
    Der Automobilist klopfte ungeduldig aufs Autodach, er hatte sich hinuntergebückt, spähte ins Innere des Wagens, wenn er nicht innert Sekunden die Fliege macht, wiederholte er, ist seine Entwicklung hier gleich zu Ende. Jede Entwicklung.
     
    Mein Lektor schaute mich anklagend an, du denkst wohl, du kannst dir alles erlauben, was?
    Ich grinste, du hast Sahne im Bart.
    Ich trage keinen Bart!
    Glück gehabt.
     
    Ich sags ihm, sagte Sydow. Ich hoffe, er nimmt es als Ermunterung, noch gelassener zu sein.
    Er kurbelte das Fenster wieder hoch, lass dir ruhig Zeit, sagte er, ich glaube, die Meditation hat ein paar neue Anhänger gewonnen.
    Stanjic kriegte endlich den Motor gestartet, ließ ihn aufheulen und das Auto machte einen Satz nach vorn, brauste über die Kreuzung, Sydow hielt sich am Handgriff über der Tür fest, bestens, er nickte, bei Rot über die Ampel.
    Grün, rot, Stanjic bog quietschend um die Ecke, das sind einfach viel zu hektische Phasen hier.
    Gewiss. Sydow nickte ein bisschen weiter, ganz sicher. Zu viele Farben auch, alles so schön bunt hier, das ging den Ossis nach der Maueröffnung auch so, hatten noch nie eine Ampel gesehen, standen in ihren kleinen Pappautos auf den Kreuzungen herum, staunten. Sie überlegten, dass hier sicher für was geworben wird, mit schönen bunten Lichtern, Kapitalismus halt, wo man geht und steht, wird für was geworben. Sie haben auf den Kreuzungen gestanden, das Spiel der Lichter betrachtet, sie haben gedacht, hier wird geworben und gegrübelt, wofür. Damals sind viele Westberliner in die Meditationskurse geflüchtet, Gelassenheit üben.
     
    Ich möchte mich an dieser Stelle kurz einschalten, nur, falls Ihr empfindliches politisches Gewissen hier quasi aufjault: Diese skandalösen Äußerungen Sydows sind nicht auf meinem Mist gewachsen, ich habe den Jungen nicht aufgezogen, verstehen Sie? Er und auch alle anderen werden im Verlauf der Handlung noch viel Schwachsinn von sich geben, also gut, ich schreibe es nieder, es ist wichtig fürs Protokoll, aber ich möchte mich hier und für immer entschieden davon distanzieren! Ich würde mich niemals hinreißen lassen, von Pappautos zu reden, ganz im Gegenteil, ich sage hier und jetzt: Der Trabant, er war ein schönes Auto. Er hatte seine Schwächen, aber, Hand aufs Herz: Haben wir die nicht alle?
     
    Er schaute auf die Liste, du bist übrigens falsch, links herum. Wir können froh sein, dass Lunch ein dehnbarer Begriff ist, ob die ihre Stullen um zwölf essen oder um drei, ist völlig einerlei.
    Stanjic kurvte um einen Brunnen, ich muss mich einfach erst einarbeiten, irgendwann geht das ganz fix. Die Texte von Simon, ich weiß auch nicht. Anfangs habe ich nur so reingelesen, aus purer Neugier, aber da ist was Unheimliches daran.
    Was heißt was Unheimliches.
    Was Brutales. Was Aggressives und was Gefährliches.
    Simon ist doch nicht gefährlich. Und nicht brutal. Ich meine – Simon! Schau ihn dir an! Eine Seele von einem Mann! Früchtetee! Der setzt noch eine Mücke auf ein Blatt und trägt sie zum Fenster, damit ihr nichts zustößt. Simon und brutal, ich bitte dich.
    Sicher. So wie wir ihn kennen, nicht. Aber der in dem Text, der ist brutal.
    Eine Seele von einem Mann! Und in einem Text ist alles möglich, es ist die eigentliche Welt des Konjunktivs, weil es Fiktion