Schwangerschaft ist keine Krankheit
Frauenarzt heiÃt es zum Thema Insulinbehandlung beim Gestationsdiabetes, dass wegen der notwendigen sehr regelmäÃigen Essensaufnahme, der selbst durchzuführenden Injektionen, der häufigen Blutglucosekontrollen, der besonders nachhaltigen geburtshilflichen Betreuung und der Geburtseinleitung »die Insulintherapie für die Schwangere eine nicht unerhebliche Belastung« darstelle (Schäfer-Graf et al. 2011).
In einer Untersuchung an 11 000 Schwangeren wurde gezeigt, dass bei Frauen mit einem Schwangerschaftsdiabetes signifikant häufiger eine Depression in der Schwangerschaft oder im Wochenbett auftritt als bei Frauen, die nicht an dieser Erkrankung leiden (Friedmann und Resnick 2009). Diese Studie wird in der aktuellen S3-Leitlinie für Gestationsdiabetes zitiert â doch welche Empfehlung wird daraus abgeleitet? Hier ist sie: »Bei allen Frauen mit GDM soll zum Zeitpunkt des Zuckerbelastungstests 6 bis 12 Wochen nach der Geburt der Befindlichkeitsbogen (â¦) als Screening-Instrument für eine depressive Verstimmung eingesetzt werden« (AWMF-Leitlinie Nr. 057/008).
Diese Empfehlung erscheint schon fast zynisch in ihrem mangelnden Einfühlungsvermögen und in ihrer Ignoranz in Bezug auf psychisch belastende Ãberdiagnostik durch die Ãrzte selbst â die dann noch nicht einmal in der Lage sind, Sie als Schwangere wirklich zu begleiten, sondern Ihnen nur Fragebogen vorsetzen. Da liegt dann die Frage schon sehr nahe, ob die Depression bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes nicht ärztlich verursacht oder mitbedingt ist.
»Blaming the victim« oder »Opferschelte«
»Blaming the victim« heiÃt ein Schlagwort in der Diskussion um Ethik im öffentlichen Gesundheitswesen. Damit ist gemeint, ob es in der Vorsorgemedizin zulässig ist, den »Opfern« die Schuld zu geben. In Bezug auf den Schwangerschaftsdiabetes heiÃt das: Ist es erlaubt, schwangeren Frauen wegen ihres Ãbergewichts, wegen ihres Bewegungsmangels die Schuld dafür zuzuweisen, dass sie eine »Krankheit«, den Schwangerschaftsdiabetes, entwickeln? Disziplinlosigkeit lautet der Vorwurf. Und manch einer wird noch eine Frage draufsetzen, indem er fragt, wie hoch die entstehenden Kosten für das Gesundheitssystem durch solche vermeintlich undisziplinierten Menschen sein mögen.
Damit sind wir mitten in den ethischen Problemen der Vorsorgemedizin und des öffentlichen Gesundheitswesens: Gibt es eine allgemeine Verpflichtung zur Gesundheit? Ist das, was durch Vorsorge erreichbar ist, die Norm für alle Menschen? Ist es gerechtfertigt, Nachteile für einzelne Menschen in Kauf zu nehmen, wenn der Gesamtnutzen für die restliche Bevölkerung positiv ist? Das ist auf bloÃe Nützlichkeit reduziertes Denken in Reinkultur. Und das Screening ist aus genau diesem Denken entstanden.
Fazit: Das Nachdenken über ethische Dimensionen der Vorsorgemedizin ist im öffentlichen Gesundheitswesen ein Stiefkind (Schröder 2007). Wir sollten uns öfter einmal fragen, wie weit wir in unserem Ãbereifer gehen wollen und was wir mit unserem Handeln gegebenenfalls verursachen. Pointiert gesagt: »Ist das präventiv Erreichbare die Norm für alle Menschen? Gibt es eine Pflicht zur Gesundheit?« (Kuhn und Wildner o. J.)
Kritische Gedanken zum Screening
Wir leben in einer Zeit, in der Screening-Untersuchungen modern sind. »Screening« bedeutet so viel wie Reihenuntersuchung. Beim Screening auf Gestationsdiabetes handelt es sich um einen »Siebtest« aller Schwangeren, der auf Blutzuckerwerten beruht.
Gegen diese wie auch gegen alle anderen Screening-Untersuchungen bestehen ganz grundsätzliche ethische Bedenken. Sie wurden exemplarisch vom britischen National Screening Committee und vom dänischen Ethikrat erarbeitet und im Detail erörtert (UK National Screening Committee o. J., Danish Council of Ethics 2001). Dazu gehört, dass eine groÃe Zahl von Menschen aus dem Screening keinen gesundheitlichen Nutzen zieht, viele Menschen aber durch das Screening oder sich daraus ergebenden Untersuchungen Schaden nehmen könnten. Durch falsche Ergebnisse können durchaus körperliche, psychische und andere Schäden hervorgerufen werden. Zudem wird als ein wichtiges Argument angeführt, dass möglicherweise nur ein erhöhtes Risiko anstelle einer tatsächlichen Krankheit diagnostiziert wird.
Die Stellungnahme warnt
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