Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
okay, ich kann‘s verstehen. Aber ich bin jetzt schon traurig, dass ich hier allein sitze.“
„Es tut mir leid, ehrlich. Ich bin eine miese Freundin. Mach dir einfach eine schöne Zeit, okay? Es wird bestimmt auch ohne mich super und ich verspreche, es irgendwann wieder gut zu machen.“
Sie wechselten noch ein paar Worte und verabschiedeten sich. Das Starren auf ihr Handy half ihr aber auch nicht weiter. Sie war enttäuscht, auch wenn sie Kim verstehen konnte. Sie hatte nicht viele Menschen, die ihr nahe standen und sich sehr auf ein paar entspannte Tage mit Kim gefreut, aber sie wünschte ihrer Freundin alles Gute für ihren romantischen Trip nach Paris. Sie selbst glaubte nicht daran, auf dem Festival vielleicht jemanden kennenzulernen. Mit dem Thema Männer war sie vorerst durch. In den letzten Jahren hatte sie zu viele Enttäuschungen erlebt. Sie leerte ihr Sektglas und tat sich selbst ein bisschen leid.
Ein Schatten fiel auf sie.
Als sie aufsah, waren ihre trüben Gedanken nur noch ein Schatten am Vormittagshimmel. Eine winzige Wolke, die in Bedeutungslosigkeit versank.
Oh. Mein. Gott.
An der Seite ihres Tisches - mitten in der Sonne - stand ein fast ein Meter neunzig großer Mann in schwarzer Kleidung und sah sich scheinbar nach einem freien Tisch um.
Das war ER! Der Mann aus ihrem Traum. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Ihr Traumbild lebte auf der Erde, trug eine Bondagehose, ein schlichtes schwarzes Hemd und eine Sonnenbrille. Trotzdem, obwohl sie nicht einmal seine Augen erkennen konnte, war sie sicher. Er war der Mann aus ihrem Traum. Es war dasselbe Kinn, dieselben Wangenknochen, derselbe Bronzeschimmer, der über die helle Haut strich, derselbe Mund, sinnlich und spöttisch. Er hatte sogar dieselben langen Haare, die er offen trug, und die wie flüssiger, goldbrauner Bernstein sein Gesicht einrahmten. Sie brachte einen erstickten Laut hervor und hustete gequält.
Der Fremde beugte sich besorgt zu ihr herab. „Ist alles in Ordnung? Hast du dich verschluckt?“ Er roch nach einer nassen Herbstwiese. Nach dem feuchten Boden am Ende eines Sturms.
Verzweifelt kämpfte Amalia darum, sprechen zu können.
Sie musste sich irren. Er sah ihm bestenfalls ähnlich. Es konnte einfach nicht der Mann aus ihrem Traum sein. So etwas gab es nicht.
„Entschuldige“, brachte sie stammelnd hervor. „Kennen wir uns?“
Er richtete sich wieder auf und zog den Stuhl neben ihrem zurück. Wie selbstverständlich setzte er sich. Jede seiner Gesten war zugleich anmutig und nachlässig. „Nicht, dass ich wüsste, aber vielleicht hast du mich letztes Jahr in Leipzig gesehen? Warst du im selben Hotel? Meine Freunde und ich kommen jedes Jahr zum WGT. Wir steigen entweder hier ab oder in der Innenstadt. Das Radisson ist sehr zu empfehlen. Zentrale Lage, nette Zimmer, gute Küche.“
„Oh.“ Mehr brachte Amalia nicht hervor.
Liebe Güte, sie war die Krone der Schöpfung, wirklich. Fehlte nur noch, dass sie grunzte wie ein Erdferkel …
„Bist du allein unterwegs?“ Er lehnte sich entspannt zurück und sah in ihr Gesicht.
Amalia spürte, wie kribbelnde Erregung sie durchflutete. Alles an ihm war fremd und zugleich vertraut: sein Geruch, seine Gesten, die Art und Weise, wie er den Kopf zu ihr wandte. Die Bilder aus ihrem Traum vermischten sich mit der Realität. Dieser Mann vor ihr war lange nicht so spöttisch und herrisch wie sein nächtliches Spiegelbild. Sie glaubte, sein Verständnis zu spüren. Es hüllte sie ein und nahm ihr alle Hemmungen.
„Ich war mit einer Freundin verabredet“, platzte es aus ihr heraus. „Aber sie hat abgesagt. Ich … ich habe den Anruf gerade erst bekommen und bin noch ganz durcheinander. Am besten fahre ich wieder heim.“
„Bedauerlich, dass sie dir abgesagt hat. Aber deshalb gleich nach Hause fahren? Kennst du sonst niemanden hier?“
„Nicht wirklich. Ich komme nicht aus der Gegend.“
„Ich auch nicht. Meine Freunde und ich leben in Frankfurt.“ Er sah sie neugierig an.
„Mainz“, beantwortete sie die nicht gestellte Frage.
„Gar nicht so weit von Frankfurt weg.“ Er lächelte. Amalia fühlte sich durch dieses Lächeln sofort besänftigt. Es war, als würde eine zweite Sonne nur für sie aufgehen.
„Du hast grüne Augen, nicht wahr? Goldgrüne Augen.“ Der Satz verließ ihre Lippen, noch ehe sie recht wusste, was sie sagte.
Der Fremde nahm die Sonnenbrille ab und legte sie auf den Tisch. „Bedaure. Ein langweiliges Braun.“
„Oh!“, entfuhr es Amalia
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