Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
zurück in die Folie, trat an das geklappte Fenster und sah zur Ill hinunter, deren Arme die Insel der Altstadt schützend umflossen.
Er hatte das Geheimnis entdeckt.
Erneut atmete er tief ein und aus. Die kühle Frühjahrsluft vertrieb den erstickenden Todesgeruch aus seinen Lungen.
Er griff zu dem Handy an seiner Seite und berührte die Oberfläche. Es dauerte nicht lange, bis er gewählt hatte, und noch kürzer, bis Gracia abhob.
„Pierre hatte einen Sohn“, sagte er mit fester Stimme, als er Gracias Gegenwart am anderen Ende der Leitung fühlte.
Gracia zögerte. „Dann hat er vielleicht weitere Nachfahren. Du weißt, was das heißt?“
„Es könnte ein Seelenblut darunter sein. Eine Wissende.“
„Komm mit den Unterlagen nach Frankfurt zurück. Wir haben wenig Zeit.“
„Ich komme.“ Aurelius legte auf. Er öffnete das Fenster ganz, wartete, bis niemand in seine Richtung sah, und schwang sich aus dem Rahmen hinunter auf die drei Meter tiefere Straße. Die Bewegung war so schnell, dass ein Mensch ihr nicht folgen konnte. Auf der Straße zog er sich mit einer Hand den schwarzen Mantel glatt und strich sich durch die langen, goldbraunen Haare. Zielstrebig ging er in Richtung Münster. Obwohl er es eilig hatte, wollte er dem imposanten Bau mit seinen eindrucksvollen Glasfenstern einen Besuch abstatten. Er wusste selbst nicht genau, warum er diesem Drang nicht widerstehen konnte. Vielleicht wollte er ein Grabmal Gottes bewundern, und in Erinnerungen eintauchen. Noch vor zwei Jahrhunderten hatte er in Frankreich gelebt, auf dem Anwesen seiner Vorfahren in der Nähe von Montbéliard.
„Du bist ein sentimentaler Schwachkopf“, schimpfte er leise mit sich. Es gab Wichtigeres zu tun, als ein altes Bauwerk zu bewundern. Die Gegenwart rief nach ihm. Seine Hände umschlossen die Papiere.
Seine Stimme war so leise wie der Windhauch zwischen den Häusern. „Wenn es ein Seelenblut gibt, werde ich es finden und es zu ihr bringen. Sie wird das Geheimnis aus dem Nebel der Zeiten heben.“
Aurelius wusste, dass das nicht genügen würde. Er würde das tun müssen, was er hasste, und was er seit Jahrzehnten vermied. Sobald sein Klan die benötigten Informationen hatte, würde er töten müssen. Das Geheimnis war nur dann sicher, wenn seine Quelle ausgelöscht wurde. Vielleicht war das der wahre Grund, warum er wie ein Sünder in die Kirche lief, auch wenn er seinen Glauben schon vor Jahrhunderten verloren hatte. Er hoffte auf eine Absolution, die ihm niemand erteilen konnte.
L EIPZIG , P FINGSTEN , F REITAG
Amalia umklammerte das weiß bezogene Hotelkissen in dem breiten Doppelbett. Sie schlief und spürte, wie sie über jene Schwelle glitt, die so düster und zauberhaft zugleich war. Der Traum riss sie mit sich. Bilder bauten sich auf. Bilder, so real, als könne sie die *.htmlGegenstände berühren, die plötzlich da waren. Seidenbespannte Wände, schwere Vorhänge und stilvolle Möbel umgaben sie. Da waren Polsterstühle, Tische auf zarten Beinen, barocke Spiegel und Blumen in hohen chinesischen Vasen. Rosenduft hüllte sie ein. Ihr raues Kleid kratzte unangenehm auf der nackten Haut. In dieser Traumwelt trug sie niemals Unterwäsche.
Der hohe Raum wurde vom Licht der Sonne durchflutet. In seinem Glanz stand
er
. Aufrecht wie eine Statue, die goldbraunen Haare zu einem Zopf geflochten. Sein Anblick beschleunigte das Pochen ihres Herzens. Sie schaffte es nicht, den Blick zu senken, wie es von ihr eigentlich verlangt wurde. Seine erstarrte Schönheit ließ sie flacher atmen, und der grausame Zug um seinen Mund brachte ihre Knie zum Zittern.
Ihr Herr hatte sie rufen lassen. Er hatte sie zu sich befohlen. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie in seinen Besitz gekommen war, aber da war keine Erinnerung. Seine grüngoldenen Augen blickten über ihren Körper in dem Kleid aus groben Leinenstoff. Ihm schien nicht zu gefallen, was er sah. Sie unterdrückte den Impuls, nach ihrer Haube zu fassen, ob sie auch gerade saß, und nicht zu viel von ihrer schwarzen Haarpracht zeigte.
Auch das war sonderbar. In diesem Zimmer ihrer Traumwelt war sie schwarzhaarig, dabei hatten ihre Haare die Farbe von dunklem Wein.
Ihr Herr sah sie auffordernd an. Ein übernatürlicher Bronzeschimmer lief über die helle Haut seines Gesichts. Sein Blick drang in sie, brach in ihr Denken ein und raubte jeden Widerstand. Amalia glaubte, diesen Blick auch auf ihrem Körper zu spüren, wie die Berührung von tausend Fingern, die
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