Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
Sie sah sich um und ging zu einer der brennenden Fackeln. Entschlossen zog sie sie aus der Wandhalterung und machte sich auf den Weg. Sie hatte noch keinen Fuß in den Gang gesetzt, als das Bild verschwamm.
„Nicht schon wieder“, stöhnte sie auf.
Das Tempeldach verschwand. Vor ihr baute sich die Mauer auf. Sie war so hoch, dass Amalia ihr Ende nicht erkennen konnte. Ihr Genick schmerzte, während sie danach suchte.
„Steig hinauf“, sagte Aurelius, der nur zu genau wusste, was sie sah. Auch in den vergangenen Versuchen war jedes Mal diese verdammte Mauer aufgetaucht.
Amalia hatte keine große Lust auf einen erneuten Kletterversuch. Sie wusste aus der bisherigen Erfahrung, dass es unmöglich war, das Ende der Mauer zu erreichen. Sie ließ sich nicht überwinden. Trotzdem legte sie die Fackel auf den Steinboden und begann den Aufstieg.
Die einzelnen Steine standen aus der Mauer hervor und boten Platz, den sie zum Festhalten und Abstellen der Füße nutzen konnte. Außerdem fiel ihr auf, dass die Mauer leicht zurückwich, wie die Wand einer Pyramide. Sie hatte immer drei Punkte, an denen sie Halt suchte, während sie den vierten ansteuerte.
Eine Weile kletterte sie schweigend. Ihr wurde heiß. Aus ihren Poren brach der Schweiß hervor und machte ihre Hände feucht und klebrig.
An einem breiteren Felsvorsprung machte sie erschöpft Halt.
„Es geht nicht. Ich sehe nach wie vor kein Ende.“
„Kletter weiter. Ich habe eine Idee.“
Sie atmete tief durch. Was für eine Idee sollte das sein?
Immer höher ging es hinauf. Wenn sie stürzte, konnte sie sich den Hals brechen. Hoffentlich war das in einer Vision unmöglich. Sie schauderte. Der Gedanke, in die Tiefe zu stürzen, war beängstigend und löste Panik in ihr aus. Sie hatte das Gefühl, sich in tödlicher Gefahr zu befinden.
Weit entfernt spürte sie Aurelius' beruhigende Hand auf ihrer Stirn. Er war bei ihr. Ihr würde nichts geschehen. Also weiter.
Verbissen arbeitete sie sich hinauf, bis sie das vertraute Schlagen von Flügeln spürte. Ein kühler Windhauch streifte sie. Sie hielt inne und sah über die Schulter zurück.
„Der Schmetterling ist da.“
„Wie sieht er aus?“
Amalia stutzte. Warum sollte das wichtig sein? „Er ist schwarz. Ganz schwarz. Vielleicht ein wenig violett. Ich glaube, er will mich angreifen.“
„Frag ihn, warum du die Mauer nicht überqueren darfst.“
„Was?“ Amalia hätte am liebsten gelacht. Sie sollte mit einem Tier sprechen? Dann erinnerte sie sich plötzlich, dass Aurelius ihr erzählt hatte, er habe sich mit Träumen befasst, und dass es in Albträumen sinnvoll sein konnte, seine Gegner anzusprechen.
„Rede mit dem Schmetterling. Versuch herauszufinden, wie du die Mauer überwinden kannst. Ich bin sicher, dass er es weiß.“
„Also gut“, murmelte sie. Sie drehte sich vorsichtig auf dem schmalen Steinvorsprung um und sah den Falter prüfend an. „Warum darf ich nicht hinter die Mauer?“
Der Schmetterling verharrte vor ihr in der Luft. Er war mindestens doppelt so groß wie sie. Seine Flügel leuchteten auf und verfärbten sich. Das Schwarz-Violett wurde zu einem intensiven Gold.
Er sprach mit leiser Stimme, die weder männlich noch weiblich klang. „Es ist ein Schutz. Den Schutz überwinden heißt, Geheimnisse zu lüften.“
Amalia brauchte ihre Zeit, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatte, dass das Tier tatsächlich antwortete. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Wir wollen Geheimnisse lüften“, sagte sie so ruhig wie möglich. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. „Was können wir tun, um die Mauer zu überwinden?“
„Diese Mauer ist nicht zu bezwingen. Nur der, der sie erbaute, kann sie einreißen.“
„Und wer erbaute sie?“
Statt zu antworten, schlug der Schmetterling kräftig mit den Flügeln. Ein Windstoß streifte Amalia und wehte ihr Haar zurück.
„Hör auf!“ Sie klammerte sich an den Steinen fest.
Der Falter hob und senkte die Flügel erneut. Der zweite Windstoß ließ Amalia vor Furcht aufschreien. Sie würde in die Tiefe stürzen.
„Was soll das?“
Das Gold der Flügel verschwamm vor ihrem Blick. Der nächste Windstoß riss sie hinab. Sie schrie, während sie ins Nichts stürzte. Dunkelheit umfing sie. Der Fallwind trocknete ihren Mund aus und erstickte ihren Schrei. Weit unter ihr glommen Lichter auf. Sie stürzte den hellen Punkten entgegen, auf eine Kuppel zu. Die Kuppel eines Gotteshauses. Sie war umgeben von anderen Gebäuden. Unter ihr lag eine
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