Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
großspurig behauptet, dass Aurelius lange auf ihren Zusammenbruch warten könne, und nun stand sie kurz davor. „Ich will endlich wieder unter Menschen.“
Mai glitt aus dem Sessel, ging vor Amalia auf die Knie und umschlang ihre Beine mit den Armen. „Ich verstehe dich. Als ich neu im Anwesen war, fand ich es auch furchtbar. Es hat lange gedauert, bis ich eine andere Anwärterin gefunden habe, die zu mir hielt. Aber diese Zeit geht vorüber.“
„Ich möchte eine vertraute Stimme hören. Ich brauche irgendein Zeichen, dass es da draußen noch eine Welt gibt und ich nicht ganz verloren bin.“
Mai schloss die Augen und senkte ihre Stimme. „Ich kann dir helfen. Aber du darfst mich nicht verraten. Wenn du mich verrätst, wird Perry mich ganz furchtbar bestrafen, und ich rede nicht über ein nettes sexuelles Spiel. Perry gehört zu den Oberen. Wenn er erfährt, dass ich gegen Gracia handle, kann er mich verstümmeln oder sogar töten.“
„Ich ...“ Amalia zögerte. „Das will ich nicht. Ich will dich nicht in Gefahr bringen.“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Wenn es ohne größere Gefahr, entdeckt zu werden, möglich ist, werde ich es tun.“
„Was wirst du tun?“ Hoffnung stieg in Amalia auf.
„Ich bringe dir dein Handy. Ich weiß, wo es liegt. Aber du musst mir versprechen, niemandem etwas von dem Anwesen und deiner Lage zu erzählen. Zumindest könntest du ein oder zwei Freunde anrufen und mit ihnen sprechen. Ich weiß, wie wichtig das ist.“
Amalia war sprachlos. „Das würdest du für mich tun? Aber warum?“
Mai lächelte. „Sagte ich doch schon. Weil ich dich verstehe. Ich bin deine Freundin.“
„Danke. Egal, ob es dir gelingt oder nicht, das werde ich dir nicht vergessen.“
Mais Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Gib dich nicht zu dankbar, sonst fallen mir hundert Ideen ein, wie du dich erkenntlich zeigen kannst.“ Sie stand auf und streifte dabei flüchtig Amalias Schoß. „Wenn du Glück hast, habe ich dein Telefon in ein bis zwei Stunden besorgt. Hältst du es so lange allein aus?“
„Ja. Ich habe schon lange nicht mehr gemalt, und Aurelius hat wirklich tolle Farben und Materialien.“
Sie wollte den Schmetterling malen, den goldenen Schmetterling, der sie in die Tiefe gestürzt hatte.
„Schön. Wünsch mir Glück.“
Mai verließ den Raum, und Amalia sah ihr noch lange nach. Sie wünschte sich mit aller Macht, dass Mai ihr Unterfangen gelang und sie Kim anrufen konnte. Schon der Gedanke, Kims Stimme zu hören, versetzte sie in gute Laune. Vielleicht würde sie sich bald nicht mehr so einsam fühlen.
Rom
Aurelius stand vor der kleinen Kirche und betrachte den simplen, dreieckigen Aufbau. Dieses Gebäude erschien ihm fremd und vertraut zugleich. Obwohl er wenig Zeit hatte, kostete es ihn einige Überwindung, es zu betreten. Erst nach einer halben Stunde besuchte er den Innenraum und starrte auf Bilder, die er nie zuvor gesehen haben konnte. Trotzdem waren sie ihm vertraut, denn sie zeigten Grausamkeiten, denen er zu oft beigewohnt hatte. Auf Fresken waren die blutigen Massaker der Gegenreformation verewigt. Er verlor sich in den Darstellungen und betrachte ein Detail nach dem anderen.
Ertappt zuckte er zusammen, als er an Amalia dachte. Er durfte sie nicht länger als nötig allein lassen. Allmählich wurde sie labil, und sie brauchte ihn mehr denn je. Und er brauchte sie. Nur wenn er in ihrer Nähe war, war er vollständig. Ohne sie fehlte ihm ein Teil seiner Selbst, den er schmerzlich vermisste.
„Kann ich Ihnen weiterhelfen, Signore?“, fragte ein Priester auf Italienisch. „Sie betrachten die Fresken schon geraume Zeit und – wie mir scheint – mit großer Kenntnis. Sind Sie Kunsthistoriker?“
„Ich ... nein. Es ist eher persönliche Betroffenheit.“
„Sie sind ein Glaubender? Sehr schön. In wenigen Minuten findet unten in den Katakomben die Eucharistie statt. Eigentlich benötigt man dafür eine Voranmeldung, aber vielleicht kann ich dafür sorgen, dass Sie an der Zeremonie des Abendmahls teilnehmen können.“
„Nein danke.“ Das war das Letzte, was er wollte. „Ich möchte lediglich die Katakomben sehen.“
„Ich bedaure, aber für die Führungen sind Sie zu spät. Wir schließen bald. Vielleicht könnten Sie morgen ...“
Aurelius veränderte seinen Gesichtsausdruck und ließ ein Stück seiner menschlichen Maske fallen. Seine Stimme wurde kehlig. Er konzentrierte seine geistigen Kräfte und sprach nicht mehr
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