Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
mit sich genommen, um ihm die Wunder der Welt zu zeigen. Sie gab sich nach wie vor als Mann aus, wenn sie unterwegs waren. Die Zeiten waren unruhig, und als Mann kam sie sicherer über die Grenzen.
„Sehen wir die Katakomben an?“ Aurelius wusste nicht, warum ihn ausgerechnet die Katakomben derart faszinierten. Sie waren seit zwei Wochen in Rom, und seit zwei Wochen hatte er immer wieder die Katakomben im Sinn, die auf der Via Appia Antica vor den Toren der Stadt lagen. Kein neu erbautes barockes Gebäude konnte ihn zufriedenstellen, egal wie verschwenderisch und monumental es erbaut war, kein Obelisk, kein Brunnen und keine Kirche ihn beeindrucken. Er wollte zu den Katakomben.
Tatjena seufzte und verzog ihr hübsches Gesicht. „Du bist besessen, mein Freund. Warum müssen es unbedingt die Katakomben sein?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich will sie sehen.“
Tatjena schien mit seinem Wunsch nicht einverstanden zu sein, trotzdem ging sie in die Seitengasse, in der ihre derzeitige Pension lag und ihre Pferde untergebracht waren. Sie ließ die Pferde aufsatteln und zäumen, und wartete neben Aurelius im Schatten eines hervorstehenden Daches.
„Ich verstehe deinen Wunsch“, sagte sie nach einer Weile. „Aber wir werden sie nicht betreten. Es wird genügen, sie von außen zu betrachten.“
Aurelius sah sie verwirrt an. „Von außen betrachten? Du meinst, wir sollen uns die Kirchen und Kapellen ansehen, aber keine einzige Katakombe?“
Ihr Blick wurde starr. Die dunkelblauen Augen verengten sich drohend. „Ich wünsche es so, und ich erwarte, dass du meinen Wunsch respektierst. Eines Tages magst du erfahren, warum, aber noch ist dieser Tag nicht gekommen.“
Aurelius war fassungslos. Mit welchem Recht sprach sie dieses Verbot aus?
Er drehte sich zornig von ihr fort. „Wenn das so ist, bleibe ich lieber in der Stadt.“ Wütend ließ er sie stehen. Er würde Tatjenas Wunsch akzeptieren, weil er sie so sehr schätzte, aber er wollte sie an diesem Tag nicht mehr sehen. Ihr Verbot entbehrte jeglicher Logik.
F RANKFURT
Aurelius kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück. Er hatte das sichere Gefühl, dass Tatjenas Verbot in einem direkten Zusammenhang mit dem goldenen Schmetterling stand. Warum sonst sollte Amalia Rom sehen? Rom war der Schlüssel, und er brauchte diesen Schlüssel. Seine Finger zuckten nervös.
Unruhe überfiel ihn. Er ging in sein Büro und buchte den nächstmöglichen Flug nach Italien. Nur ein schnelles Handeln konnte ihn weiterbringen. Es war nicht gut, Amalia allein zu lassen, aber noch weniger konnte er riskieren, dass sie in die Hände von Gracia fiel, falls sich die geistige Mauer nicht überwinden ließ. Er musste alles tun, was in seiner Macht stand. Darion würde auf Amalia aufpassen. Er würde seinem Bruder einen Schwur auf sein Leben abnehmen, dass er sich um sie kümmerte und sie beschützte.
Er schloss die Augen. Rom. Es war an der Zeit, sich dieser Stadt zu stellen.
Amalia war überrascht, wie schnell sie eingeschlafen war. Als sie erwachte, sah sie nicht Aurelius auf dem bequemen weißen Sessel sitzen, sondern Mai, die in einer Zeitschrift las.
„Hey“, meinte sie schüchtern. „Schön, dass du da bist.“
Mai legte die Modezeitschrift auf den Tisch und lächelte. „Und ich habe es sogar geschafft, dich dieses Mal nicht zu befummeln. Hurra.“
Amalias Gesicht wurde warm. Sie musste an das Spiel mit Perry denken. „Ich hoffe, du bist nicht böse wegen ... du weißt schon ... der Sache mit Perry.“
Mai lachte und verbarg dabei ihre Zähne geziert hinter ihrer Hand. „Böse?“ Ihre Augen blitzten. „Ich liebe solche Spiele. Gerne jederzeit wieder.“
Amalia war erleichtert, das zu hören.
„Wo ist Aurelius?“
„Er musste das Anwesen vorübergehend verlassen. Darion ist für dich zuständig.“
Amalia setzte sich auf. „Für mich
zuständig
. Das klingt, als sei ich ein schwerer Problemfall.“
Mai legte den Kopf schief. „Du bist zumindest ein Mensch, der geschützt werden muss.“
„Wo ist Aurelius hin?“
„Ich weiß es nicht genau. Soll ich dir etwas zu essen holen?“
Sie schüttelte den Kopf. Warum war Aurelius gegangen, ohne mit ihr zu reden? Er hätte sie wecken können. „Ich habe keinen Hunger.“
Mai kniff die Augen leicht zusammen. „Du siehst blass aus. Was ist los?“
„Ich halte es nicht mehr aus.“ Amalia hatte Mühe, gegen die Tränen anzukommen und ärgerte sich über sich selbst. Noch vor ein paar Tagen hatte sie
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