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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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daß sie ganz offenkundig in unterschiedlichen Welten lebten. Hätte das New-World-Projekt sie nicht zusammeng e führt, dann hätten ihre Wege sich nicht gekreuzt. Die Übersetzung war jetzt abgeschlossen, und er war froh, daß sie zu ihrem normalen Leben zurückkehren konnte, wie immer das aussah. Er hatte keinen Grund, sentime n tal zu werden. Sie war für ihre Arbeit als kleine Sekret ä rin bezahlt worden, und »nicht schlecht bezahlt«, wie sie selbst ihm versichert hatte; und dasselbe galt für ihn, wenn auch auf anderem Niveau und aus anderen Grü n den.
    Doch war er mit sich selbst wirklich im reinen?
    War der ehrerbietige Sohn, der am Krankenbett seiner Mutter saß, derselbe wie dieser Herr Großkotz, der seine kleine Sekretärin ins Golden Times Rolling Backward ausführte?
    »Sind Sie Oberinspektor Chen?« Eine junge Schw e ster streckte den Kopf zur Tür herein. »Unten wartet j e mand auf Sie.«
    Chen ging mit großen Schritten die Treppe hinunter. Zu seiner Überraschung fand er Parteisekretär Li in der Eingangshalle. Er hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand, ein völlig ungewohnter Anblick bei dem sonst so steifen, hochrangigen Parteikader mit seiner bis obe n hin zugeknöpften Mao-Jacke. In der Auffahrt parkte der Mercedes des Präsidiums.
    »Man hat mir gesagt, daß Ihre Mutter noch schläft«, sagte Li, »deshalb dachte ich, wir unterhalten uns besser hier unten. Ich habe heute vormittag einen Termin bei der Stadtregierung.«
    »Vielen Dank fürs Kommen, Parteisekretär Li. Sie hätten sich wirklich nicht bemühen müssen, wo Sie doch so beschäftigt sind.«
    »Ganz im Gegenteil, ich hätte schon viel früher ko m men sollen. Sie ist eine so reizende alte Dame. Ich hatte ja schon ein paarmal das Vergnügen, mich mit ihr zu u n terhalten«, sagte Li. »Und Ihnen wollte ich im Namen des Shanghaier Polizeipräsidiums meinen Dank für Ihre hervorragende Arbeit aussprechen.«
    »Es war Hauptwachtmeister Yus Arbeit. Ich habe nur ein wenig mitgeholfen.«
    »Keine falsche Bescheidenheit, Oberinspektor Chen. Sie haben diesen Fall bestens gelöst. Keinerlei politische Implikationen. Eine optimale Lösung. Und so werden wir es auch bei der Pressekonferenz darstellen. Das Motiv für den Mord waren Geldstreitigkeiten zwischen Yin und einem Verwandten. Das hatte nichts mit Politik zu tun.«
    »Nein, es hatte nichts mit Politik zu tun«, wiederholte Chen mechanisch.
    »Wir haben bereits positive Reaktionen auf den Au s gang des Falls. Ein Reporter von der Wenhui schrieb, Yin hätte Yangs Großneffen nicht so schlecht behandeln dü r fen. Und ein Journalist von der Befreiung bezeichnete sie als gerissen und hinterhältig …«
    »Aber Sie haben die Pressekonferenz doch noch gar nicht abgehalten, oder?«
    »Nun ja, einige Reporter müssen irgendwie Wind von unseren Ergebnissen bekommen haben. Solche Artikel werden Yins posthumes Image zwar nicht gerade heben, aber das braucht uns ja nicht zu kümmern.«
    » Wer kann Geschichten beeinflussen, Geschichten, die nach unserem Tod erzählt werden ? / Das ganze Dorf stürzt sich auf die romantische Kunde von General Cai… nur mit dem Unterschied, daß diese Geschichte gar nicht romantisch ist.«
    »Schon wieder Ihre poetische Ader, Oberinspektor Chen«, sagte Li. »Übrigens werden wir Yangs Roma n manuskript besser nicht erwähnen. Die Staatssicherheit besteht darauf. Es liegt im Interesse der Partei, das nicht publik zu machen.«
    Das also war der wahre Grund für Parteisekretär Lis Besuch, dachte sich Chen. Li würde die Pressekonferenz leiten und mußte vorab klären, was die zuständigen B e amten sagen sollten, und vor allem, was sie nicht sagen sollten.
    Nachdem Li gegangen war, bemerkte Chen vom Bl u menstrauß abgefallene Blütenblätter am Boden. Wie über Weiße Wolke, so wollte er auch über Yin kein Urteil fä l len. Entgegen Baos Aussage, die er zu seiner eigenen Rechtfertigung gemacht hatte, und entgegen den Press e kommentaren wollte er Yin als jemanden sehen, der viel hatte durchmachen müssen.
    Zweifellos hatte Yin mit der Veröffentlichung von Yangs Gedichtsammlung finanzielle Interessen verfolgt. Doch fairerweise mußte man ihr zugestehen, daß sie sich als Herausgeberin viel Arbeit gemacht hatte; ein Liebe s dienst, den sie im Gedenken an Yang übernommen hatte. Wie so viele Englischlehrer in den neunziger Jahren hätte sie durch Privatstunden wesentlich mehr verdienen kö n nen. Und schließlich mußte auch sie sehen, wie sie sich in einer

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