Schwarz. Weiß. Tot.: Storys
und sie war die Stärkere, |195| sie war wohl so was wie sein Anker. Lange Rede, kurzer Sinn, für mich war er eigentlich nie richtig da. Dabei war mein Leben
auch sehr schwierig. Ich habe genauso sehr getrauert, und außerdem gab es da diese Sache, die mit mir passierte und die ich
noch nicht so richtig verstand. Als ich dann endlich mal darüber reden wollte, hat mich mein damaliger Freund angesehen, als
hätte ich einen Knall. Ich war wütend, Oom. In der neunten Klasse wollte ich nur noch weglaufen, weg von allem. Damals dachte
ich, ist doch ganz leicht, ich schleiche mich einfach in eine Bank, lasse die Zeit still stehen, nehme, was ich brauche, steige
in einen Bus und fahre weg. Ich hatte alles genau geplant. Ich hatte einen Rucksack gepackt und war an diesem Morgen nicht
zur Schule gegangen. Dann bin ich zum Canal Walk gegangen und habe in der Bank gewartet, um mir alles erst mal genau anzusehen.
Doch dann wurde mir klar, dass ich dieses Geld nicht nehmen konnte. Denn sie würden denken, die Frau am Schalter hätte das
Geld gestohlen. Und dieser Mann, der Geld aus dem Automaten zog: Vielleicht war das für seine Kinder oder seine Angestellten
– ich konnte es nicht einfach nehmen. Ich stand also da und kapierte langsam, dass es ein Verbrechen ohne Opfer einfach nicht
gibt.«
Sie nahm Messer und Gabel wieder in die Hand.
»Und, was hast du gemacht?«
»Ich habe meinen Rucksack ausgepackt und bin am nächsten Tag wieder in die Schule gegangen. Und ich habe mir die ganze Zeit
inständig gewünscht, endlich einmal mit jemandem darüber reden zu können. Mit jemandem, der wie ich die Zeit anhalten kann.
Denn es konnte doch unmöglich nur mich geben, im ganzen Universum? Da habe |196| ich angefangen zu suchen. In Büchern, im Internet … Ich wurde zum Informationsjunkie, ich habe mehr Google Alerts als Bill
Gates Dollars. Anfangs bin ich noch unsystematisch vorgegangen, aber ich habe dazugelernt und nach und nach einiges herausgefunden.
Diese Ausdrucke, die ich dir gegeben habe. Und natürlich die Morde …«
Er dachte lange nach, bevor er antwortete: »Meinst du, derjenige, der in Seepunt Geld von der Absa gestohlen hat, hätte eine
Verbrechensmethode entwickelt, bei der es keine Opfer gibt?«
»Genau. Aber ich wollte dir auch damit sagen, Oom, wie klasse es ist, endlich mal mit jemandem über alles reden zu können!
Das ist … du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet.« Sie streckte die Hand aus und berührte seine.
»Ach, Nita, du musst wirklich darunter gelitten haben.«
»Ja, aber jetzt geht’s mir besser«, sagte sie und zog ihre Hand wieder weg.
Johnnie October heftete den Blick auf sein Notizbuch und wunderte sich. Wie viel Glück hatte dieses Kind gehabt, dass es nicht
auf die schiefe Bahn geraten war! Und wie eigenartig es war, dass sie sich begegnet waren!
»Du … Das … bedeutet mir auch sehr viel«, versicherte er ihr.
»Cool«, sagte sie, wieder ganz die Alte, und aß den Rest ihres Omeletts auf.
»Nur eines verstehe ich noch nicht. Wir haben hier einen unbekannten Verdächtigen, der zwei kaltblütige Morde begangen hat,
zielgerichtet und vorsätzlich. Wir reden von dem schlimmsten aller Verbrechen, dem Töten von Menschen. |197| Warum sollte er sich Sorgen darüber machen, wenn eine Bankangestellte des Diebstahls bezichtigt wird?«
»Gute Frage«, sagte sie.
»Daraus folgt: Entweder gibt es noch eine dritte Person hier am Kap, die die Zeit anhalten kann …«
»Ziemlich unwahrscheinlich«, fiel sie ihm ins Wort. »Wie groß müsste dieser Zufall sein?«
»Na schön. Wenn der Mörder und der Dieb ein- und derselbe sind, muss er etwas ganz Bestimmtes gegen unsere beiden Opfer gehabt
haben. Ein Motiv! Und damit, Nita, werden wir ihn fangen.«
9.
Anderthalb Stunden lang saß Superintendent Johnnie October in seinem Cressida gegenüber dem Firmengebäude in der Riebeeckstraat,
in der die Kanzlei Holtzhausen & Finch ihren Sitz hatte. Allmählich wurde er unruhig, denn wenn sie sie schnappten, würden
sie beide in ziemliche Erklärungsnöte geraten.
Endlich öffneten sich die Glastüren, und Nita kam heraus, wobei das weiße Handtäschchen unbeschwert an ihrer Schulter baumelte.
Er lehnte sich hinüber und öffnete ihr die Tür. Sie stieg ein. »Nichts«, erklärte sie. »Dirk Holtzhausen hatte wohl keinen
Spaß am Online-Dating.«
Octobers Hoffnungen stürzten in sich zusammen, denn er hatte geglaubt, dies sei
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