Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
sich bei vollem Bewusstsein und aus freien Stücken zwei Nägel in die Brust rammen zu lassen. Doch erinnern wir uns an Sprüche, die es auch außerhalb der Bundeswehr gibt und die angeblich einen Mann erst zu einem wirklichen Mann machen: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, oder auch in der Werbesprache: »Ist er zu stark, bist du zu schwach«. Machismo in Reinkultur wird hier praktiziert, auch wenn man von Tradition, Zeremonie oder Ritual spricht. Man stellt sich auf einen Sockel, um auf die herabzusehen, die es nicht geschafft haben oder sich gar weigerten, so »ausgezeichnet« zu werden. Auch die Schimpfwörter, die für solche Personen schnell bei der Hand sind, disqualifizieren sich von selbst: Heulsuse, Versager, Loser, Memme, Schwuchtel, Mimose, ohne Eier, Weichei, Tunte – Begriffe aus dem Wörterbuch des Unmenschen oder aus dem Sprachschatz des Herrenmenschen.
Natürlich lösen solche Dinge bei Bekanntwerden – es gibt weit ekelerregendere Beispiele als die genannten – immer wieder Erschrecken und Entsetzen aus, wobei Soldaten, die daran teilnahmen, die Geschichten nicht annähernd so schlimm finden wie die Berichterstattung darüber. Besonders aufschlussreich bei solchen Vorkommnissen ist, dass Vorgesetzte fast jedes Mal behaupten, nichts davon gewusst zu haben und schon gar nicht daran beteiligt gewesen zu sein. Gemäß den Vorschriften sind diese Veranstaltungen jedoch ausnahmslos dienstlicher Natur, müssen also auf einem Dienstplan oder Zusatzdienstplan vermerkt und dadurch bekannt gemacht werden. Zudem besteht die Pflicht, dass ein disziplinarischer Vorgesetzter oder einer seiner Vertreter anwesend zu sein hat. Von den Vorgesetzten wird außerdem verlangt, diese Dienstpläne stets beim Bataillon einzureichen und in Kopie an die Brigade weiterzuleiten. Diese strikten Vorgaben lassen die Ausrede, nichts gewusst zu haben, in den meisten Fällen schnell zusammenbrechen. Trotzdem, solches Verhalten ist bei der Bundeswehr nach wie vor keine Ausnahme und wird, mit zugekniffenen Augen und auf dem Rücken verschränkten Armen, von den Vorgesetzten geduldet. Wird schon niemand etwas merken, ist die Devise. Doch in den meisten Fällen wird »etwas gemerkt«, und dann ist wegen der vorsätzlichen Vertuschung Geschrei und Unverständnis erst recht groß. Wenn das, was bei solchen Anlässen stattfindet, in Ordnung wäre, müsste man es ja nicht geheim halten, kontern die Gegner bei jedem neu bekannt gewordenen Vorfall. Und doch kann man den Kritikern nur bedingt recht geben. Das Ärgernis besteht doch nicht darin, dass eine Gruppe von Menschen beschlossen hat, etwas nicht an die große Glocke zu hängen, da es nur sie selbst angeht und keine Auswirkungen auf Außenstehende hat. Das Ärgernis besteht auch nicht darin, dass Handlungen, mögen sie auch noch so eklig, unverständlich und mit gewissen Risiken behaftet sein, vollzogen wurden, schließlich wurde keiner gewaltsam zur Teilnahme gezwungen, sondern alle taten dies im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte freiwillig – in anderen Zusammenhängen würde man von »consenting adults« sprechen. Das Ärgernis, über das gesprochen werden müsste, liegt unter solchen Oberflächlichkeiten: Es sind die charakterlichen Defizite, die sich hier zeigen, die sich eines Elitedenkens bedienen und sich in der Machtausübung gegenüber anderen ausleben. Es wäre dringend an der Zeit, sich einzugestehen, warum es diese Fehlentwicklungen gibt, woher sie stammen und wie man sie aus der Welt schaffen könnte. Mitmachen und Wegschauen haben dieselben Wurzeln: das kritiklos übernommene Weltbild von Befehl und Gehorsam, von oben und unten, von Wölfen und Schafen, von Auserwählten und nützlichen Idioten. Daran gilt es zu arbeiten, anstatt sich ein ums andere Mal über dessen Symptome zu echauffieren.
Gänzlich unverantwortlich wird es allerdings, wenn bei solchen Gelegenheiten körperliche oder auch nur psychische Gewalt ins Spiel kommt. Dann wird selbst das Prinzip der gleichrangigen »consenting adults« außer Kraft gesetzt; eine solche »Veranstaltung« verkommt zur unentschuldbaren Straftat gegen das Recht auf Unversehrtheit und gegen die Gleichrangigkeit jedes Individuums in einer freien Gesellschaft. Schon aus diesem Grund wäre die Bundeswehr gut beraten – will sie doch eine republikanische Armee sein, also eine Armee freier und gleicher Bürger – , sie würde sich in Bezug auf solche »Traditionen« eine grundsätzliche Frage stellen: Wozu brauchen wir
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