Schwarze Fluten - Roman
gesehen hatte, war Roseland mir als ein Ort vorgekommen, der nicht das war, wonach er aussah. Das Anwesen war prachtvoll, aber nicht edel. Luxuriös, aber nicht gemütlich. Elegant, aber aufgrund der herrschenden Übertreibung nicht solide.
Hinter jeder der prächtigen Fassaden schienen sich Fäulnis und Verfall zu verbergen, sodass man es fast sehen konnte. Die Bauten und ihre Bewohner versuchten den Eindruck zu vermitteln, alles sei normal, doch in jeder Ecke und bei jeder Begegnung spürte ich Täuschung, Abnormität und eine geheimnisvolle Andersartigkeit, der ich auf die Spur kommen musste.
Während ich auf dem Fleck nackter Erde vor der Stalltür stand, tauchte plötzlich ein weiterer Beweis für den zutiefst unnatürlichen Charakter von Roseland vor mir auf. Die Sonne stand erst seit einer halben Stunde am östlichen Himmel zu meiner Linken, weshalb sich mein Schatten als lange, schmale Silhouette rechts von mir Richtung Westen streckte. Der Stall warf jedoch zwei Schatten. Einer fiel nach Westen, war aber nicht so dunkel wie meiner und grau statt schwarz. Der zweite Schatten des Gebäudes war kürzer, aber schwarz wie meiner, und er fiel nach Osten wie am frühen Nachmittag, etwa eine Stunde, nachdem die Sonne ihren Zenit überschritten hatte.
Auf dem staubigen Boden lagen ein Stein und eine zerdrückte Coladose. Ihr Schatten fiel nur nach Westen, wie es meiner tat.
Zwischen den beiden Ställen hatte man einen etwa zwölf Meter breiten Übungsplatz angelegt, der nun von wildem, herbstlich braunem Gras und Kraut überwuchert war. Als ich zum zweiten Stall hinüberging, musste ich feststellen, dass auch dieser zwei Schatten warf, einen längeren, helleren nach Westen und einen kürzeren schwarzen nach Osten.
Ich konnte mir nur einen Grund vorstellen, weshalb ein Gebäude zwei unterschiedlich dunkle Schatten in entgegengesetzte Richtungen warf. Dazu mussten zwei Sonnen am Himmel stehen, von denen die schwächere erst vor Kurzem aufgegangen war, während die stärkere sich bereits auf den westlichen Horizont zubewegte.
Über mir schien natürlich nur eine einzige Sonne.
In der Mitte des Übungsplatzes erhob sich eine stattliche, knapp zwanzig Meter hohe Magnolie, die zu dieser Jahreszeit blattlos war. Ihre Äste warfen ein Netz aus pechschwarzen Schatten nach Westen über die Mauer und das Dach des ersten Stalls, wie es so früh am Tag angebracht war.
Also unterlagen nur die beiden Gebäude dem Einfluss zweier Sonnen, der über mir und einer, die ich nicht sehen konnte.
Bei meinen Streifzügen war ich schon zweimal bis hierher vorgestoßen. Ich war mir sicher, dass ich dieses Phänomen dabei nicht einfach übersehen hatte. Das hieß, die beiden entgegengesetzten Schatten waren ein einzigartiges Merkmal dieses Augenblicks.
Da das Äußere der beiden Gebäude sich mir in diesem unmöglichen Zustand darbot, fragte ich mich, welche Überraschungen mich wohl im Innern erwarteten. In meinem ungewöhnlichen Leben ähneln leider nur wenige Überraschungen einem Lotteriegewinn. Stattdessen sind meist scharfe, spitze Zähne im konkreten oder übertragenen Sinn beteiligt.
Dennoch schob ich das Tor des zweiten Stalls gerade so weit auf, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Dann trat ich einen Schritt nach links hinter die Bronzeplatte, um vor der Öffnung keinen Schattenriss abzugeben.
Entlang der beiden Längswände waren je fünf geräumige Boxen mit halbhohen Türen aus Mahagoni oder Teak eingebaut. Der Mittelgang war dreieinhalb Meter breit und wie der Boden der Boxen mit eng gefugtem Naturstein gepflastert.
Am anderen Ende befanden sich links die Sattelkammer und gegenüber eine Kammer für das Futter. Beide Räume waren leer.
Der Boden der Ställe, die ich bisher gesehen hatte, war aus gestampfter Erde gewesen, doch das Steinpflaster war nicht das einzige merkwürdige Detail hier.
Jede Box war mit einem etwa einen Meter breiten Fenster mit Bleiverglasung ausgestattet. Das Glas bestand hauptsächlich aus kleinen Quadraten, nur in der Mitte war eine ovale Scheibe eingefügt. Darin eingebettet war ein geflochtener Kupferdraht, der eine auf der Seite liegende Acht bildete.
Das Glas selbst wies einen kupferfarbenen Schimmer auf, wodurch das einfallende Tageslicht rötlich gefärbt war. Anderswo hätte diese Beleuchtung wohl die gemütliche Atmosphäre eines Herdfeuers verbreitet, doch hier kam mir Kapitän Nemo in den Sinn, als wäre der Stall ein U-Boot gewesen, das durch ein Meer aus Blut und Feuer fuhr. Na
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