Schwarze Fluten - Roman
auf sie gerichtet waren, doch das Schicksal hatte mir keine Chance gewährt, dieses Opfer darzubringen.
Seither habe ich mir oft gewünscht, ich wäre gemeinsam mit ihr gestorben.
Ich liebe das Leben und die Schönheit der Welt, aber da Stormy nicht mehr da ist, um mit mir daran teilzuhaben, wird die Welt trotz all ihrer Wunder für mich immer unvollständig sein.
Selbstmord werde ich allerdings nie begehen und mich auch nicht bewusst einer Situation aussetzen, in der ich getötet werden könnte, denn eine Selbstzerstörung würde bedeuten, das Geschenk des Lebens zurückzuweisen, und das wäre eine unverzeihliche Undankbarkeit.
Wegen der Jahre, die Stormy und ich gemeinsam so sehr genossen haben, schätze ich das Leben. Und ich hoffe, wenn ich den Rest meiner Tage so verbringe, dass Stormy damit einverstanden wäre, dann werden wir irgendwann wieder zusammen sein.
Vielleicht hatte ich deswegen so bereitwillig zugestimmt, Annamaria vor Feinden zu schützen, die mir noch immer unbekannt waren. Denn jedes Leben, das ich rette, gehört womöglich einem Menschen, der für jemand anders so wertvoll ist, wie Stormy es für mich war.
Die beiden Hunde sahen sich augenrollend an, und dann schauten sie zu mir herüber, als wäre es ihnen peinlich gewesen, dass ich nicht in der Lage war, Annamarias unverwandtem Blick standzuhalten.
Ich brachte den Mut auf, ihr wieder in die Augen zu schauen, als sie sagte: »Womöglich werden die folgenden Stunden deinen Willen auf die Probe stellen und dir das Herz brechen.«
Obwohl diese Frau in mir – und anderen – den Wunsch weckte, sie zu beschützen, hatte ich manchmal den Eindruck, dass sie es war, die Schutz bot. Trotz ihres deutlich sichtbaren Babybauchs wirkte sie zwar klein und verloren, aber vielleicht rief sie diesen Eindruck der Verletzlichkeit bewusst hervor, um Mitgefühl zu wecken und mich anzuziehen, damit sie mich unter ihre Fittiche nehmen konnte.
»Spürst du, wie sie auf dich zustürmt, junger Mann, eine Apokalypse, die Apokalypse von Roseland?«, fragte sie.
Ich presste das Glöckchen an meine Brust. »Ja«, antwortete ich.
5
Falls jemand in Roseland tatsächlich in großer Gefahr war und mich dringend brauchte, wie Annamaria gesagt hatte, dann war das vielleicht der Sohn der seit Langem toten Reiterin. Allerdings konnte der unmöglich so jung sein, wie der Geist seiner Mutter dachte. Wenn es sich jedoch nicht um das eigene Kind der Frau handelte, so bestand offenbar irgendeine andere Verbindung zwischen ihr und ihm. Die Intuition sagte mir, dass der Mord an ihr das Geheimnis war, das ich lösen musste, um damit alle anderen Geheimnisse in Roseland aufzuklären. Falls der Mörder nach all den Jahren noch am Leben war, so konnte es sich bei der Person, die mich brauchte, um sein nächstes Opfer handeln.
Die zwei Ställe waren nicht so groß und aufwändig wie jene in Versailles und daher nicht protzig genug, um die revolutionären Massen dazu zu bringen, die neueste Staffel von Dancing with the Stars abzuschalten und stattdessen begeistert sämtliche Bewohner von Roseland zu zerstückeln, aber landesübliche Holzkonstruktionen waren es auch nicht. Es waren Ziegelbauten mit dunklen Schieferdächern und Fenstern mit Bleiverglasung und gemeißelter Kalksteinumrahmung, deren Anblick ausdrückte, dass hier nur erstklassige Pferde erwünscht gewesen waren.
Keiner der Ställe war nach außen hin offen. Am Ende jedes Gebäudes befand sich ein großes Bronzetor, das man auf einer im Boden versenkten Schiene zur Seite schieben konnte. Die Tore wogen bestimmt zwei Tonnen, liefen jedoch so gut ausbalanciert auf ihren geölten Rädern, dass es kaum Mühe machte, sie zu öffnen und zu schließen.
Jedes Tor war mit drei stilisierten Art-déco-Pferden geschmückt, die von links nach rechts galoppierten. Unter den Pferden sah man die Lettern ROSELAND .
Die mir anfangs bis zu den Hüften reichenden Gräser und Kräuter wurden kleiner, als ich mich dem ersten Stall näherte. Drei Meter davon entfernt war alles verdorrt.
Dass irgendetwas hier nicht stimmte, hätte ich womöglich gar nicht wahrgenommen, wenn ich noch durchs Gras gegangen wäre statt über nackte Erde. So jedoch wurde ich stutzig und blieb zwei Schritte von dem Bronzetor entfernt stehen.
Schon bevor der Ruf des angeblichen Seetauchers durch meine erste Nacht hier gehallt war, bevor mir das gespenstische Pferd und seine schöne Reiterin erschienen waren, und lange bevor ich die Flügelwesen im gelben Himmel
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