Schwarze Fluten - Roman
dachte er, ich hätte von einem Kind gesprochen. Selbst manche richtig üblen Gewaltjunkies haben eine Schwäche, wenn es um Kinder geht.
»Na, das klingt endlich logisch«, sagte er. »Wenn du ’ne superheiße Braut anschleppst, will natürlich niemand, dass Kenny was von ihr erfährt.«
Statt an Kennys Wohlwollensdrüse zu appellieren, hatte ich die Produktion anderer Drüsen angeregt, die besser inaktiv geblieben wären. »Nein, Sir, so ist es nicht. Die Situation ist ein wenig anders.«
»Wieso?«
»Es handelt sich um eine ganz liebe, ziemlich spirituelle junge Frau, die überhaupt nicht heiß ist, sondern eher hausbacken und außerdem im achten Monat schwanger; sie sieht nicht besonders toll aus, aber alle mögen sie, weil es so traurig ist, wenn jemand ganz allein ist, und ein Baby ist unterwegs. Das rührt einfach das Herz, wissen Sie?«
Kenny starrte mich an, als hätte ich plötzlich angefangen, eine Fremdsprache zu verwenden. Auf jeden Fall war es eine Sprache, deren Klang ihn derart beleidigte, dass ich ihm zutraute, mich doch noch zu erschießen. Bloß damit ich den Mund hielt.
Um das Thema zu wechseln, legte ich einen Finger an meine Oberlippe, an dieselbe Stelle, wo auf Kennys Lippe ein Fieberbläschen glühte. »Das tut bestimmt weh, oder?«
Ich hätte gemeint, er könnte nicht noch gereizter werden, aber er schwoll geradezu an vor Wut. »Willst du etwa behaupten, ich bin krank?«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Sie sehen so gesund aus wie ein Stier. Genauer gesagt, kann jeder Stier sich glücklich schätzen, wenn er so gesund wie Sie ist. Ich sagte bloß, dass das kleine Ding, das Sie da haben, bestimmt wehtut.«
Er regte sich ein wenig ab. »Das tut verflucht weh.«
»Was tun Sie dagegen?«
»Gegen Aphthen kann man nichts machen. Das Scheißding muss von selbst heilen.«
»Das ist aber keine Aphthe, das ist ein Fieberbläschen.«
»Jeder sagt, es ist ’ne Aphthe.«
»Aphthen sind im Mund. Sie sehen anders aus. Wie lange haben Sie das Ding denn?«
»Sechs Tage schon. Manchmal will ich am liebsten brüllen.«
Ich zuckte zusammen, um mein Mitgefühl auszudrücken. »Bevor Sie es bekommen haben, hat es da in Ihrer Lippe gekribbelt, genau da, wo das Bläschen später aufgetaucht ist?«
»He, das stimmt«, sagte Kenny und riss die Augen auf, als glaubte er, einen Hellseher vor sich zu haben. »Gekribbelt hat es wirklich.«
Beiläufig schob ich den Lauf der Uzi von mir weg. »In den vierundzwanzig Stunden vor diesem Kribbeln, waren Sie da sehr heißer Sonne oder kaltem Wind ausgesetzt?«
»Wind. Vorletzte Woche hatten wir ’nen Kälteeinbruch. Hat von Nordwesten geblasen wie wahnsinnig.«
»Dann haben Sie ein wenig Windbrand. Zu viel Sonne oder kalter Wind kann so ein Bläschen entstehen lassen. Da es nun schon passiert ist, sollten Sie einfach ein wenig Vaseline drauftupfen und aufpassen, dass die Stelle keine Sonne und keinen Wind abbekommt. Wenn die Haut nicht weiter gereizt ist, heilt es bald ab.«
Kenny tastete mit der Zunge nach dem Bläschen, sah, dass ich das nicht gut fand, und fragte: »Bist du etwa so ’ne Art Doktor?«
»Nein, aber ich kenne ein paar Ärzte ziemlich gut. Und Sie gehören wohl zur Wachmannschaft?«
»Seh’ ich etwa so aus, als wär’ ich der Unterhaltungschef?«
In der Annahme, dass wir uns inzwischen nah genug gekommen waren, riskierte ich ein herzliches Lachen und sagte: »Nach ein paar Bier sind Sie bestimmt so unterhaltsam, dass es kracht.«
Das von dem Fieberbläschen verzierte Grinsen, bei dem er seine schiefen, dunkelgelben Zähne zur Schau stellte, war in etwa so anziehend wie ein von einem Tieflader überrolltes Opossum. »Jeder sagt, wenn Kenny ein paar Bier gekippt hat, kann er zum Brüllen komisch sein. Blöd dran ist bloß, nach etwa zehn Flaschen bin ich so aufgedreht, dass ich anfange, die Möbel zu zerlegen.«
»So geht’s mir auch«, behauptete ich, obwohl ich noch nie mehr als zwei Bier am selben Tag getrunken hatte. »Aber wahrscheinlich kann ich dann nicht mal halb so viel Schaden anrichten wie Sie.«
Jetzt hatte ich ihn an der Angel.
»Ich hab schon ganz schöne Verwüstungen angerichtet, das stimmt«, erklärte er, wobei die schaurigen Narben in seinem Gesicht eine helle Rotfärbung annahmen. Offenbar hob die Erinnerung an seine Untaten sein Selbstwertgefühl.
Inzwischen war mir aufgefallen, dass sich das Licht im Stall veränderte. Als ich nach rechts blickte, sah ich, dass das rötliche Glas der Ostfenster immer noch im
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