Schwarze Fluten - Roman
sah ich einen abwärts verlaufenden Tunnel, zwei Meter breit und gut zwei Meter hoch.
Da ich mich an der Nordseite des Mausoleums befand und das Haupthaus nördlich davon stand, war zu vermuten, dass der Tunnel unter den Kaskaden, der Rasenfläche und der Terrasse hindurchführte und im Keller von Noah Wolflaws Domizil endete.
Seit ich den Gästeturm verlassen hatte, war es mein eigentliches Ziel gewesen, mich unbemerkt ins Haus zu schleichen und zu tun, was getan werden musste, um die Geheimnisse von Roseland zu enthüllen und den Jungen zu befreien. Der Tunnel bot eine verstohlenere Route, als ich zu finden gehofft hatte – falls ich unterwegs nicht auf Wolflaw, Sempiterno oder ein Schwein stieß, das vorgab, so zu gehen wie ein Mensch.
Offenbar war dies jedoch mehr als ein Geheimgang. Es musste noch einem anderen Zweck dienen – als Teil des seltsamen Mechanismus, den ich in den beiden Kellern des Mausoleums entdeckt hatte.
Boden, Wände und Decke des Tunnels waren mit Kupferplatten ausgekleidet; rechteckige Lampen an der Decke sorgten für einen Wechsel aus Schatten und Licht. In jede Wand war waagrecht eine durchsichtige Glasröhre eingebettet, durch die sich langsam goldene Lichtpulse bewegten. Sie erinnerten mich an die leuchtenden Tropfen, die sich von den Schwungrädern im ersten Keller lösten.
Im einen Moment schienen die Pulse sich auf das Haus zuzubewegen, im nächsten weg davon. Wenn ich sie länger als einige Sekunden direkt betrachtete, wurde mir flau im Magen, und mir kam der merkwürdige, verwirrende Gedanke, ich sei hier und nicht hier, real und nicht real, und ich würde mich gleichzeitig dem Haus nähern wie mich von ihm entfernen.
Ich nahm mir vor, die Röhren nicht mehr direkt anzuschauen. Stattdessen richtete ich den Blick auf den Boden und ging los.
Am Ende des Gangs kam ich zu einer mit Kupfer verkleideten Tür. Ich öffnete sie und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Vor mir befand sich ein Weinkeller mit Steinwänden und einem Betonboden, in den die bekannten Kupferstäbe eingesetzt waren. In Regalen aus Rotholz lager ten Tausende Flasche n.
Etwas so Normales wie ein Weinkeller kam mir hier abnormal vor. Da folterte und tötete jemand Frauen, kerkerte seinen eigenen Sohn ein, bewaffnete sich selbst und sein Personal für Armageddon, machte aus seinem ganzen Anwesen eine Maschinerie, ließ ein Rudel Menschenschweine durch den Garten toben – und dann setzte er sich abends mit einem guten Cabernet Sauvignon und einem Stück leckeren Käse aufs Sofa, um Musicalmelodien zu lauschen?
Nichts in Roseland war so normal wie Musicalmelodien, Käse und Wein. Vielleicht war dies tatsächlich einmal das Domizil eines typischen Milliardärs mit den üblichen Perversionen gewesen, aber inzwischen war das eindeutig nicht mehr der Fall.
Ich war versucht, eine der Flaschen zu öffnen, um festzustellen, ob sie Blut statt Rotwein enthielt.
Hinter einer von zwei rustikalen Eichentüren fand ich eine schmale Treppe vor. Wahrscheinlich führte sie in die Küche hinauf.
Von Mr. Shilshom hatte ich alles erfahren, was er zu sagen bereit war, falls ich ihm nicht zwei Kabel an die Weichteile klemmte, um ihm weitere Informationen per Elektroschock zu entlocken. Das war jedoch nicht mein Stil. Außerdem hätte ich schon bei der Vorstellung, die Weichteile des Kochs zu Gesicht zu bekommen, am liebsten gekreischt wie ein kleines Mädchen, das auf seiner Schulter eine Tarantel entdeckt.
Mit viel zu tun und möglicherweise wenig Zeit dazu ging ich zur zweiten Tür und zog sie vorsichtig auf. Dahinter kam ein langer Flur mit mehreren geschlossenen Türen auf beiden Seiten und einer weiteren Tür am anderen Ende.
Ich lauschte an der ersten Tür links, bevor ich sie öffnete. Der große Raum war voll mächtiger eiserner Brennöfen und ebenso mächtiger Heizkessel, die aus den 1920er Jahren zu stammen schienen. Sie sahen aus, als wären sie gerade erst aus der Fabrik gekommen, und ich konnte nicht beurteilen, ob sie noch in Betrieb waren, weil sie keinerlei Geräusch von sich gaben.
Zur Rechten führte die erste Tür in einen Lagerraum, in dem nichts gelagert wurde, und als ich die zweite Tür auf derselben Seite öffnete, fand ich dort Victoria Mors vor, die zum Team von Mrs. Tameed gehörende Hausangestellte. Sie kümmerte sich um die Wäsche.
Die Waschmaschinen und Trockner waren neuer als die Öfen und Heizkessel, doch wie der Weinkeller kamen sie mir wegen ihrer Gewöhnlichkeit deplatziert in der
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