Schwarze Fluten - Roman
dreiunddreißig Frauen, deren Todesdatum angegeben war, waren alle in den vergangenen acht Jahren ermordet worden. Der Abstand, in dem der Mörder seinen zerstörerischen Drang verspürt hatte, betrug weniger als drei Monate. Vier Opfer jährlich, Jahr für Jahr, dann und wann eines zusätzlich.
Eine solche Serie konnte nicht mit einem mörderischen Impuls oder einem psychotischen Zwang erklärt werden. Es war das Lebenswerk dieses Mannes, seine Beschäftigung, seine Berufung .
Ich wandte mich an den namenlosen Geist. »Hat Noah Wolflaw dich getötet?«, fragte ich.
Nach kurzem Zögern nickte die Frau: Ja .
»Warst du seine Geliebte?«
Wieder ein Zögern. Ja.
Bevor ich eine dritte Frage stellen konnte, hob sie die Hand, um mir einen Verlobungs- und einen Ehering zu zeigen. Die beiden Ringe waren natürlich nicht real, sondern nur eine Vorstellung des Schmucks, den sie einmal auf dieser Welt getragen hatte.
»Seine Frau?«
Ja.
»Du willst, dass er seiner gerechten Strafe zugeführt wird.«
Sie nickte heftig und legte beide Hände aufs Herz, als wollte sie sagen, Gerechtigkeit sei ihr sehnlichster Wunsch.
»Ich werde ihn zur Strecke bringen. Er kommt ins Gefängnis, ganz bestimmt.«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Kehle: Töte ihn.
»Das werde ich wahrscheinlich ohnehin tun müssen«, sagte ich. »Aber leicht wird das nicht, fürchte ich.«
25
Die auf der Erde verweilenden Toten liefern nicht immer hilfreiche Informationen, und selbst jene, die mir helfen wollen, sind von ihrer psychischen Struktur im Tod ebenso behindert wie im Leben. Weil sie sich zwischen dieser Welt und der nächsten verloren haben, ist ihr Denken oft von Furcht, Verwirrung und wohl auch anderen Emotionen geprägt, die zu komplex sind, als dass ich sie mir vorstellen könnte. Deshalb verhalten sie sich gelegentlich irrational und behindern mich, wo sie mir eigentlich nur helfen wollen, oder sie wenden sich von mir ab, wenn sie das Gegenteil tun sollten.
Um möglichst viel von Wolflaws ermordeter Frau zu erfahren, bevor sie womöglich weniger kooperativ wurde, sagte ich: »Im Haus ist ein Junge. Genau, wie du mir zu verstehen gegeben hast.«
Sie nickte heftig. In ihre Augen traten Tränen, denn selbst Geister können weinen. Allerdings benetzen ihre Tränen nichts auf dieser Welt.
Weil der Junge gesagt hatte, man habe ihn von irgendwo hierher gebracht und er wolle dorthin zurück, hatte ich angenommen, er sei nicht mit Noah Wolflaw verwandt und gehöre nicht nach Roseland. Offenbar verhielt es sich jedoch anders.
»Dein Sohn«, sagte ich.
Ja.
»Ist Noah Wolflaw sein Vater?«
Nach erneutem Zögern nickte sie wieder, tiefe Enttäuschung im Gesicht. Ja.
»Ich nehme an, du weißt nicht viel über mich, nur dass ich dich und andere, die nicht ins Jenseits gegangen sind, sehen kann. Deshalb will ich dir sagen, dass ich wegen deines Sohnes an diesen Ort geführt worden bin. Ich soll ihm helfen, und das werde ich versuchen, so gut ich kann.«
Sie sah hoffnungsvoll, aber auch unsicher aus. Ihre mütterliche Angst, die sie selbst in den Tod mitgenommen hatte, weckte mein Mitgefühl.
»Er sagt, er will zurückgebracht werden, aber ich weiß nicht, von wo man ihn geholt hat. Hat er eine Zeit lang bei jemand anderem gelebt, vielleicht bei seinen Großeltern?«
Nein.
»Bei einem Onkel oder einer Tante?«
Nein.
»Ich bringe ihn zurück, das verspreche ich dir!«
Zu meiner Überraschung reagierte sie erschrocken und schüttelte entschieden den Kopf. Nein, nein, nein.
»Aber er will zurück, das will er unbedingt, und wenn dies hier zu Ende ist, wird er irgendwo hinmüssen.«
Sichtlich verzweifelt, presste die verstorbene Mrs. Wolflaw die Hände an den Kopf, als wäre die Vorstellung, dass ihr Sohn irgendwo hingebracht wurde, eine Höllenqual für sie.
»Serienmord ist nicht das Einzige, worum es in Roseland geht. Hier geht etwas verdammt Seltsames vor sich, und das wird nicht gut enden. Dann wird es kein Roseland mehr geben, und falls doch, wird es ein verrufener Ort sein, ein Magnet für geistig Verwirrte, Sektierer, Verrückte jeder Art. Deshalb wird der Junge dorthin zurückkehren müssen, wo er hinwill.«
Angst verzerrte ihr schönes Gesicht, doch offenbar spürte sie auch Wut, denn sie schlug mit der Faust nach mir.
Die auf der Erde verweilenden Toten können mich zwar berühren, wenn sie eine freundliche Absicht haben, und dann spüre ich diese Berührung auch. Wollen sie mir jedoch schaden,
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