Schwarze Fluten - Roman
gelangte ich zum zweiten Mal in den unteren Keller. Wie vorher, so liefen auch hier an der Decke unablässig die goldenen Zahnräder in den sechs silbernen Schienen, und die Sammlung aus toten Frauen erwartete mich wie gehabt mit festgesteckten Augen, die wachsam in die Ewigkeit starrten.
Vielleicht war der zeitliche Stillstand, den die Maschinerie erzeugte, hier in ihrer direkten Nähe stärker als anderswo. Auf jeden Fall waren die grausigen Trophäen, die mit dem Rücken an der Wand dasaßen, so frisch tot wie in dem Moment, in dem der Herr von Roseland sie ermordet hatte.
Leichen, die sich nicht verändern, sind dennoch nur Leichen. Trotzdem fragte ich mich, ob der Mörder in der Stille der Nacht je in fiebrige Schuldgefühle oder trübe Verzweiflung verfiel und sich dann vorstellte, dass ihm die Frauen entgegenkamen mit den blutenden Stigmata ihrer Wunden und rauen, anklagenden Stimmen, halb gefangen in ihren mittels Krawatten erwürgten Hälsen.
Alles, was ich ihm antun konnte, war viel, viel weniger, als er verdiente.
Mir wurde bewusst, dass die zeitlosen Leichen völlig unversehrt von Kreaturen waren, die sich von totem Fleisch ernährten. Offenbar war das Haus frei von Insekten und Nagetieren gewesen, als Teslas Maschinerie zum ersten Mal angeschaltet wurde. Ich hatte keine unsterblichen Spinnen gesehen, die unendliche Netze webten, keine antik aussehenden Stubenfliegen, keine Ratten, die weise geworden waren, weil sie fünfzig rattige Leben hinter sich hatten.
Allerdings: Falls doch solche Ratten hinter der Wandtäfelung hausten, gab es keinen Grund, davon auszugehen, dass sie weise waren. Selbst viele Menschen werden jenseits eines gewissen Alters nicht weiser – oder überhaupt nie.
Constantine Cloyce – nun Noah Wolflaw – war siebzig Jahre alt gewesen, als er 1948 offenbar seinen Tod vorgetäuscht hatte. Nun hatte er hundertvierunddreißig Jahre auf dem Buckel, schien jedoch weder Demut noch die Weisheit einer moralischen Lebensführung gelernt zu haben. Dass er mich wiederholt angeblafft hatte, ich solle die Klappe halten, entsprach kaum dem kultivierten, amüsanten Stil, den man von einen Mann seines Alters und seiner Erfahrung erwartet hätte.
Ich ging durch den Keller zu der Tür, hinter der sich der mit Kupfer ausgekleidete, unterirdische Gang zum Haupthaus befand. Durch die links und rechts in den Wänden eingebetteten Glasröhren bewegten sich die goldenen Lichtpulse wieder abwechselnd simultan auf das Haus zu und weg davon. Ich vermied es, sie genauer zu betrachten, um mir das Schwindelgefühl zu ersparen, das ich beim ersten Mal verspürt hatte.
Im Weinkeller unter dem Haus angelangt, ging ich nicht wieder in den Kellerflur. Stattdessen nahm ich die enge Treppe, die von hier direkt ins Erdgeschoss führte.
Tatsächlich landete ich in der Küche, die ich äußerst vorsichtig betrat, falls Mr. Shilshom gerade ein Bankett für ein Fest zubereitete, das Prinz Prospero würdig gewesen wäre. In einer Erzählung von Edgar Allan Poe veranstaltet dieser Prinz in einer apokalyptischen Zeit, in der eine Krankheit namens »Roter Tod« wütet, eine große Party, um seine sterbliche Natur zu leugne n. Das führt zu keinem guten Ende. Ich vermutete, dass es mehreren Bewohnern von Roseland nicht besser ergehen würde als Prospero.
Das einzige Licht stammte von den beiden Lampen über den Spülbecken. Die Fenster waren immer noch von den Stahlplatten verbarrikadiert.
Momentan hämmerte kein einziges Biest an den Stahl, und ihm Haus war es totenstill. Vielleicht hatte der Zug und Schub von Teslas Maschine alle in ihre ursprüngliche Zeit zurückversetzt, doch das bezweifelte ich. Irgendetwas an der Stille kam mir bedrohlich vor.
Neben der Küche befand sich ein Raum, der dem Koch als Büro diente. Ich schlüpfte hinein und schloss leise die Tür.
Hier komponierte Mr. Shilshom seine Menüs, schrieb Einkaufszettel und dachte zweifellos auch darüber nach, was er dem Herrn des Hauses servieren sollte, wenn demnächst eine junge, der verstorbenen Mrs. Cloyce ähnelnde Frau nach Roseland gelockt wurde, um gefoltert und ermordet zu werden. Mahlzeiten für besondere Gelegenheiten sind immer schwierig zu planen.
Offenbar hatte Constantine Cloyce aufgrund seiner potenziellen Unsterblichkeit ein Gefühl der Überlegenheit entwickelt, das ihn dazu brachte, bloße Sterbliche zum Spaß zu ermorden. Selbst wenn er der Einzige hier war, der so etwas tat, waren die anderen genauso wahnsinnig wie er. Ihr
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