Schwarze Fluten - Roman
im Chaos dieser Zeit nicht mehr nötig war, seine wahre Identität hinter Pseudonymen zu verbergen. Womöglich waren die Menschen in diesem kommenden Zeitalter so damit beschäftigt, ihre Familie und sich selbst zu verteidigen und zu ernähren, dass sie kein Interesse an der Vergangenheit mehr hatten. Wenn es unter dem unruhigen gelben Himmel kein Internet, kein Fernsehen und kein Radio mehr gab und wenn die früher von den Behörden gesammelten Daten in den Schubladen verfallener Gebäude moderten, musste Cloyce seinen Namen und manche Aspekte seines Aussehens nicht mehr ab und zu verändern. Er musste nicht so tun, als wäre er ein Manager namens Noah Wolflaw oder ein südamerikanischer Bergwerkserbe. Stattdessen konnte er den Namen dessen tragen, der er immer schon gewesen war: Constantine Cloyce.
Die Logik gebot, dass die Bewohner von Roseland noch weniger auf einen Ort fixiert waren als Besteck und Kleidung. Sie waren daher nicht schon dadurch unsterblich, dass sie innerhalb der Mauern lebten. Also alterten sie ganz normal und mussten offenbar ab und zu – vielleicht alle paar Jahrzehnte – irgendeine Prozedur durchführen, um ihre Jungend wiederherzustellen.
Wenn sie dann über Nacht dreißig oder vierzig Jahre ablegten, ihr graues Haar, ihre Falten und alles andere verloren, was das Alter mit sich brachte, sahen sie wie neue Menschen aus und waren praktisch nicht mehr als die erkennbar, die sie gewesen waren. Sie brauchten also kaum mehr tun, als ihren Namen und ihre Frisur zu verändern, um als neue Bewohner von Roseland durchzugehen, vor allem, wenn sie zurückgezogen lebten und kaum Kontakt mit ihren Nachbarn pflegten.
Mir fiel ein, wie Victoria Mors gesagt hatte, sie tue nie etwas Gefährliches, und nun begriff ich, warum. Selbst wenn diese Leute in der Lage waren, die Wirkungen von Alter und Krankheit umzukehren, konnten sie doch erschossen werden oder durch einen Unfall ums Leben kommen.
Aus demselben Grund hatte Henry Lolam nur drei seiner acht Wochen Urlaub genommen und war dann nach Roseland zurückgekehrt. Er fühlte sich in dessen Mauern sicherer. Seine Unsterblichkeit machte ihn zu einem Gefangenen von Roseland, und er war sein eigener Kerkermeister.
Obwohl ich noch massenhaft Fragen hatte, waren es immerhin weniger als vor einer Stunde. Dringend Antworten brauchte ich jedoch, was die Rolle des namenlosen Jungen anging.
Wenn Noah Wolflaw tatsächlich Constantine Cloyce war, dann war der Geist auf dem Pferd Madra Cloyce, seine Frau aus den 1920er Jahren. Sie musste damals schon erschossen worden sein, als man noch Pferde hier gehalten hatte.
Ich erinnerte mich an ihr Zögern und ihre Frustration, als ich sie im Keller des Mausoleums zwischen den ganzen Leichen gefragt hatte, ob sie die Frau von Noah Wolflaw sei. Da ihre Antwortmöglichkeiten sich auf Nicken und Kopfschütteln beschränkten, hatte sie mir nicht sagen können, dass Wolflaw mit Cloyce identisch und sie daher die Frau von beiden gewesen war.
Auch der namenlose Junge war nicht mehr namenlos. Er war der Sohn von Madra und Constantine, der angeblich tot war. Er war jung gestorben, und sein Name – Timothy – stand im Mausoleum auf einer Plakette unter der Nische, in der offiziell seine Asche bestattet war.
Von woher hatte Noah Wolflaw – Cloyce – ihn geholt, und weshalb wollte der Junge unbedingt dorthin zurück? Wenn er der neunjährige Timothy war, warum war er nach so vielen Jahrzehnten immer noch neun? Warum ließen die anderen ihn nicht erwachsen werden, damit er sich dann regenerieren konnte wie sie? Hatten sie ihn etwa fast neunzig Jahre lang im Kindheitszustand erhalten?
Im Schatten von Enkelados waren die Antworten nicht zu finden. Sie warteten drüben im Haus auf ihre Lösung.
Von Nordwesten her rollte lautlos eine dunkle Wolkenwand heran, die wahrscheinlich noch vor Ende des Tages Blitz und Donner bringen würde. Das drohende Unwetter hatte bereits ein Drittel des Himmels erobert und bewegte sich inzwischen schneller, um sich von Horizont zu Horizont auszubreiten.
Aus irgendeinem Grund dachte ich bei diesem Anblick daran, wie Henry Frankenstein hoch oben in dem alten Wachturm werkelt, der ihm im Film – anders als im Buch – als Labor dient. Ja, im Film heißt es Henry statt Victor und Turm statt Mühle … Ihr erinnert euch? Es war die Szene, in der er mithilfe eines Blitzstrahls seine Schöpfung zum Leben erweckt, dieses torkelnde Ding mit einem kriminellen Hirn und einem gnadenlosen Friedhofsherz.
Die
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