Schwarze Herzen
gebrochen worden.
Ihre ungewöhnlich angespannten Züge zeugten von Unsicherheit. „Hast du dazu gar nichts zu sagen?“
Im nächsten Augenblick stand sie direkt vor ihm, obwohl er auch nicht die kleinste Bewegung an ihr wahrgenommen hatte. Der allgegenwärtige Gestank, eine Mischung aus Schwefel, Qualm und versengtem Fleisch, wurde plötzlich vom süßen Duft von Geißblatt vertrieben. Tief atmete Geryon ein, die Augen verzückt geschlossen. Oh, hätte dieser Moment doch für immer andauern mögen.
„Torwächter“, drängte sie auf eine Antwort.
„Göttin.“ Er musste sich zwingen, die Lider zu öffnen, die Millimeter um Millimeter den Blick auf jene Schönheit enthüllten, die alles Dunkle und Hässliche hier unten überstrahlte. Aus unmittelbarer Nähe war sie nicht so perfekt, wie er erwartet hatte. Sie war sogar noch vollkommener. Vereinzelte Sommersprossen sprenkelten die dezent geschwungene Nase, und bei ihrem bezaubernden Lächeln zeigten sich kleine Grübchen auf den Wangen. Exquisit.
Was sie wohl über ihn dachte? Wahrscheinlich, dass er ein Ungeheuer war, unförmig und widerwärtig. Was der Wahrheit entsprach. Falls sie ihn tatsächlich so sah, ließ sie es sich allerdings nicht anmerken. In ihren glänzenden Augen lag nichts weiter als nachdenkliches Interesse. Welches, wie er vermutete, weniger ihm galt als der beschädigten Barriere. Selbst als er noch ein Mensch gewesen war, hatten Frauen einen großen Bogen um ihn gemacht und sofort die Flucht ergriffen, wenn er auch nur in ihre Richtung schaute. Er war zu groß, zu massig, zu ungeschickt.Und das schon bevor er in dieses Oger-ähnliche Ding verwandelt worden war.
Manchmal fragte er sich, ob ihn bei seiner Geburt irgendjemand mit einem Fluch belegt hatte.
„Dieser Riss war gestern noch nicht da“, stellte sie fest. „Wodurch kann ein solcher Schaden entstanden sein? Und in so kurzer Zeit?“
„Eine Gruppe von Dämonen erhebt sich nunmehr täglich und versucht mit aller Macht, in die Freiheit zu entkommen. Die Hohen Herren sind ihrer Gefangenschaft überdrüssig geworden – und es verlangt sie nach lebendigen, menschlichen Opfern.“
Sie nahm die beunruhigenden Neuigkeiten ohne eine sichtbare Gefühlsregung auf. „Sind dir ihre Namen bekannt?“
Geryon nickte. Er musste nicht hinter die Barriere sehen, um zu wissen, wer auf der anderen Seite sein Unwesen trieb und ihr zu nahe kam. Er spürte es. Immer.
„Gewalt, Tod, Lüge, Zweifel, Elend … soll ich noch weitere nennen?“
„Nein“, antwortete sie leise. „Ich verstehe. Die Bösesten der Bösen.“
„Ja. Mit aller Kraft werfen sie sich gegen die Mauer und schlagen ihre Klauen hinein. Sie wollen unbedingt in die Welt der Menschen durchbrechen.“
„Dann zwing sie, damit aufzuhören.“ Ein Befehl, mit einem flehenden Unterton. Wenn es doch nur so einfach wäre. Er hätte alles getan, um ihren Wunsch zu erfüllen, selbst die letzten spärlichen Überreste seiner Menschlichkeit aufgegeben, hätte das etwas geändert. Alles, wodurch er ihr für das Geschenk ihrer täglichen Besuche, die Lichtblicke seines freudlosen Daseins, wenigstens ein kleines bisschen zurückgeben könnte. Egal, wie hoch der Preis wäre, er war gewillt, ihn zu bezahlen, solange sie dadurch hier bei ihm bliebe. Und sei es auch nur für ein paar Minuten länger, die er ihren betörenden Duft einatmen dürfte.
„Es ist mir verboten, meinen Posten zu verlassen, ebenso wie es mir verboten ist, das Tor aus irgendeinem anderen Anlass zu öffnen, als eine verdammte Seele einzulassen. Ich kann deshalb Eurer Anweisung leider nicht Folge leisten.“
Davon abgesehen war der einzige Weg, einen wild entschlossenen Dämon aufzuhalten, ihn zu töten. Und einen der Hohen Herren zu töten zählte ebenfalls zu den verbotenen Dingen.
Ihr entwich ein Seufzen. „Hältst du dich immer an das, was dir vorgeschrieben wird?“
„Immer.“ Anfangs hatte er versucht, gegen die unsichtbaren Fesseln anzukämpfen, die ihn gefangen hielten. Früher einmal. Doch diese Zeiten des Aufbegehrens gehörten lange der Vergangenheit an. Gegenwehr zog Schmerz und Leid nach sich. Nicht für ihn selbst, sondern für andere. Unschuldige Menschen, deren einziges Vergehen darin bestand, seiner Mutter, seinem Vater oder seinen Brüdern zu ähneln – seine wirklichen Angehörigen waren schon vor Ewigkeiten abgeschlachtet worden. Solche armen Seelen wurden hierher verschleppt und vor seinen Augen grausam zu Tode gefoltert. Diese Schreie …
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