Schwarze Piste
blaugefrorenen Lippen, aber nichts kam heraus. Wäre Kreuthner des Lippenlesens kundig gewesen, hätte er vielleicht die Worte »Du Arschloch« gelesen. So aber suchte er weiter nach der Mohrrübe.
»Vielleicht ist sie ihm in den Schoß gefallen.« Kreuthner wischte den Schnee von der Stelle, an der er die Schneemannoberschenkel vermutete, und stieß auf etwas. Es war aber keine Karotte. »Des is ja witzig. Die haben dem Schneemann Hosen angezogen. Das musst du sehen.«
»Ich will’s nicht sehen. Und ich kann auch nichts sehen. Es ist Nacht, und ich hab keine Kontaktlinsen mehr. Können wir jetzt bitte zur Talstation fahren!«
Kreuthner setzte unverdrossen seine Ausgrabungen fort und stieß auf immer mehr Goretex. »Des gibt’s ja net. Der is total angezogen. Von oben bis unten.« Kreuthner wischte den Schnee großflächig fort. Zum Vorschein kam etwas, das weder Mann noch aus Schnee war. Auf der Bank saß eine Frau, die den Kopf im Nacken, eine Hand nach unten von sich gestreckt hatte und in den Sternenhimmel zu starren schien. Allerdings waren die Augen geschlossen. Einer der Ärmel ihrer Skijacke war bis zur Armbeuge aufgeschnitten und der Unterarm von einer milchigen Kruste aus Eis bedeckt. Darunter schimmerte es rot.
»Was ist denn das?«, fragte Daniela, die nur wenige Meter entfernt stand, die Frau auf der Bank ohne Kontaktlinsen aber nur verschwommen sehen konnte.
»Nix«, sagte Kreuthner. »Geh schon mal vor. Ich muss nur schnell telefonieren.«
Danielas Neugier war geweckt. Sie tappte mit den Skiern an den Füßen näher. Kreuthner stellte sich zwischen sie und die Bank. »Schau dir das nicht an. Das ist … ich weiß net, was es ist. Aber es ist jemand.«
»Wie – jemand?«
»Eine Frau. Und die ist schon länger hier.«
»Wieso sitzt die nachts auf der Bank? Das ist doch … kalt.«
Kreuthner nahm sein Handy in Betrieb und drückte auf zwei Tasten. »Ich hab net die leiseste Ahnung, was die Frau hier macht. Vielleicht hat sie an Herzinfarkt gehabt. So was passiert manchmal. Und wennst Pech hast, findst du sie den ganzen Winter nimmer. So gesehen, hat die Frau fast noch Glück ge… Servus! Hier ist der Leo Kreuthner von Miesbach. Ich bin grad am Wallberg … net am Haus oben, im Wald. Ich gib euch gleich die GPS -Daten durch. Mir ham a Problem – da hockt a Tote auf einer Bank.«
Während Kreuthner auf dem Smartphone seinen exakten Standort abrief, stapfte Daniela näher. Die gefrorene Leiche zog sie magisch an. »Geh, was machst denn da?«, fragte Kreuthner und griff nach ihrem Arm, während er auf das Display seines Handys blickte. Doch Daniela war schon an der Bank und starrte die Leiche an, dann legte sie eine Hand auf ihren Mund, und in ihrem Gesicht zeigte sich blankes Entsetzen. Unvermittelt griff sie in die Jacke der toten Frau und zog einen Schlüsselbund mit einem Hund als Anhänger hervor, ein schriller Schrei fuhr durch die Winternacht, und sie sank schluchzend zusammen.
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9
W allner hatte versprochen, pünktlich zu Hause zu sein, um Katja ins Bett zu bringen, und anschließend wollte Vera etwas Wichtiges mit Wallner besprechen. Vor fast genau einem Jahr hatte Vera Katja geboren, ein lebhaftes Kind, das von seinem Vater die Neugier geerbt hatte und von der Mutter die kastanienbraunen Locken. Ebenfalls dem Vater wurde Katjas Neigung zugerechnet, alles in ihrer Umgebung unter ihre Kontrolle zu bringen. Wenn etwa Menschen, Tiere oder Dinge sich von Katja wegbewegten, wurde sie unleidlich und fing an zu weinen. Zum Glück war Katja von heiterem Wesen, so dass die meisten Menschen gern bei ihr blieben.
Es war kurz nach fünf, und Wallner hatte im Büro bereits seine Daunenjacke angezogen, um sich auf den Heimweg zu machen, als die Meldung eintraf, Kreuthner habe mal wieder eine Leiche gefunden. Die Todesursache konnte Kreuthner nicht angeben, aber die von ihm geschilderten Umstände waren so ungewöhnlich, dass eine polizeiliche Untersuchung der Angelegenheit notwendig erschien.
Daniela Kramm saß in der Talstation, an ihrer Seite eine Mitarbeiterin des Miesbacher Kriseninterventionsteams, kurz KIT . Seit dem Schrei, der ihr im Angesicht der Schneeleiche entfahren war, hatte sie nichts mehr gesagt. Kreuthner hatte sie noch bis zur Talstation gebracht. Es hatte sich herausgestellt, dass die Rodelbahn nur fünfzig Meter vom Fundort der Leiche entfernt verlief. Jetzt saß die junge Frau auf einer Bank im neonbeleuchteten Eingangsbereich, durch den sich während des
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