Schwarze Piste
vorzeigen, wenn sie was in der Hand hätte.
Ob Stalin etwas mit Sophies Tod zu tun hatte? Schwer zu sagen. Sehr schwer. Die Frau hatte immer eine unangenehme Aura gehabt. Was wohl daran lag, wie Immerknecht jetzt reflektierte, dass sie bei aller Eloquenz etwas durch und durch Verschlossenes ausstrahlte. Sie verfügte über ein gewisses Charisma. Doch Stalin war nicht echt, nichts an ihr. So wie sie sich den Namen einer anderen Person übergestülpt hatte, so schien ihre ganze Existenz etwas Übergestülptes zu sein. Irgendwo in den innersten Windungen ihres Gehirns mochte ein echter Charakter stecken. Aber den hatte noch niemand zu sehen bekommen. Jedenfalls niemand, den Immerknecht kannte. Kurz gesagt: Eine falsche Schlange war Stalin auf alle Fälle. War sie auch eine Mörderin? In den letzten Jahren hatte Stalins Persönlichkeit etwas Psychotisches angenommen. Immerknecht war eigentlich davon ausgegangen, dass sie in einer geschlossenen Abteilung enden würde.
Er war in seinem Landhaus in Otterfing (bequeme fünfundvierzig Minuten vom Lenbachplatz in München entfernt, wo sich die Bank befand) am Frühstückstisch gesessen und hatte im Lokalblatt gelesen, dass eine Sophie K. unter unklaren Umständen ums Leben gekommen war. Nora hatte sich, während er Zeitung las, heimlich Wodka in den Orangensaft gegossen – in Immerknechts Rücken, doch er beobachtete ihr Spiegelbild in der offen stehenden Glastür zum Flur, sah, wie sie die Flasche kaum halten konnte vor Zittern und sich für den ersten Schluck zum Saftglas hinunterbückte, damit sie es nicht verschüttete. Es brach ihm das Herz zu sehen, wie weit unten sie schon war. Und er verfluchte sich, dass er mitspielte, statt das Problem anzugehen. Irgendwie hatte er Angst davor. Lea steckte den Kopf herein und verabschiedete sich zur Schule, wie üblich ohne Frühstück. Immerknecht fragte sich, ob sie wusste, was mit ihrer Mutter los war. Eine rhetorische Frage, wenn er es recht bedachte. Natürlich wusste sie es. Hinter ihrer gleichgültig-genervten Teenagerfassade steckte ein wacher Verstand. Lea hatte es vermutlich schon gewusst, bevor er selbst es sich eingestanden hatte.
Eine Sophie K. war also am Wallberg umgekommen. Er hatte bei der Meldung zunächst nicht die geringste Vermutung, um wen es sich handelte. Erst als erwähnt wurde, dass die Tote einen Gnadenhof betrieben hatte, traf es ihn wie ein Faustschlag, und Panik erfasste ihn. So große Panik, dass er alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht ließ und Sophies Schwester anrief. Was soll’s, dachte er. Die Bullen würden ohnehin darauf kommen, dass sie sich kannten. Es wäre unter diesem Aspekt eher verdächtig, wenn er nicht anrufen und sein Beileid bekunden würde.
»Jörg …?«, hatte Daniela gesagt. »Du bist der …«
»Ich kannte Sophie vom Studium«, half er ihrer Erinnerung auf die Sprünge. »Ich hab dich mal gesehen, als du sie besucht hast. Du warst damals fünfzehn. Ich wollte nur sagen, dass es mir wahnsinnig leid tut. Wie … wie ist es passiert?« Daniela erzählte es ihm. Und was sie erzählte, beruhigte ihn nicht. Es sah aus wie Selbstmord. Aber Daniela glaubte nicht daran. Er auch nicht.
Und er war offenbar nicht der Einzige, der sich Sorgen machte. Abends fand er im Briefkasten einen Zettel mit einer Einladung zum Skifahren. Der Treffpunkt war unheimlich, aber sinnig. Ja, sie hatten einiges zu besprechen. Der Zettel im Briefkasten war eine Vorsichtsmaßnahme, die sie seit Jahren praktizierten. Alles, was über Internet oder das Telefonnetz kommuniziert wurde, hinterließ Spuren für die Ewigkeit. Echte Datensicherheit gewährleistete nur der gute alte Zettel: Burn after reading!
Es schneite an diesem Morgen. Immerknecht hatte keine rechte Freude am Skifahren. Abgesehen von dem unerfreulichen Anlass war er längere Zeit nicht gefahren, und die elend steile Abfahrt verlangte ihm alles ab. Deshalb steuerte er ohne Umwege auf den vereinbarten Treffpunkt zu. An einem der Bäume hing noch ein Stück Flatterband. Er schnallte die Skier ab und setzte sich auf die Bank, auch wenn es ein seltsames Gefühl war. Es kamen ihm Zweifel, ob es schlau war, sich ausgerechnet hier zu treffen. Egal. Das Treffen musste sein.
Immerknecht wartete. Es schneite unablässig. Bald waren seine Skier verschwunden, und auf den Schultern des Skianoraks blieben weiße Häufchen liegen. Und still war es. Unglaublich still. Kein Auto war aus dem Tal zu hören, keine Skifahrer, nichts. Totenstille –
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