Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
sich auf die Musik einzulassen. Das Licht war schwächer geworden und das Zimmer erschien Violet jetzt so dämmrig, dass sie kaum die Noten erkennen konnte und auswendig spielen musste. Leise bewegten sich die Vorhänge und auch der Brokatstoff der Portiere zitterte, ohne dass man hätte erkennen können, woher der Luftzug stammte. Eine seltsame, unwirkliche Atmosphäre breitete sich über den Raum aus, schien von Mrs. Chrestle vollkommen Besitz ergriffen zu haben, und Violet spürte, dass auch sie dieser Stimmung zu erliegen drohte. Während sie spielte, hatte sie plötzlich das erschreckende Gefühl, wie eine Fremde neben dem Flügel zu stehen und auf die junge Frau zu starren, die dort über die Tastatur gebeugt saß. Es war eine zarte Schönheit mit dunklem Haar, die sich völlig ihrer Musik hingab und während ihres Spiels mit verzücktem Ausdruck in die Ferne sah.
„Clarissa ist ein so sanftes Mädchen“, hörte sie Mrs. Chrestles leise Stimme. „Sie hat immer getan, was man von ihr verlangte. Sie ist rein wie ein Engel.“
Sie spricht von Clarissa, als würde sie noch leben, dachte Violet erschrocken. Plötzlich verspürte sie wieder jene unbestimmte Angst, die sie während der Nacht verfolgt hatte. Irgendetwas Bedrohliches schwebte in diesem Raum, ein Lufthauch, der nicht fühlbar war, aber den toten Gegenständen Leben verlieh, eine unsichtbare Energie, die lautlos die Vorhänge bewegte, das Licht verdunkelte. Ihre Finger wurden feucht, der Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Mit Mühe brachte sie die Sonate zu Ende, hielt den Schlussakkord eine kleine Weile und zuckte heftig zusammen, als jemand in die Hände klatschte.
Mrs. Chrestle saß aufrecht in ihrem Sessel und spendete ihr Applaus. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt wieder der einer Lady, die eine junge Künstlerin mit wohlwollendem Lächeln belohnt.
„Es war wunderbar, Miss Burke. Würden Sie morgen wieder zu mir kommen? Mein Mann wird das Finanzielle natürlich mit Ihnen regeln.“
Die Angst war verschwunden. Violet wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn, steckte eine vorwitzige Haarlocke hinters Ohr und begriff nicht mehr, was gerade eben mit ihr los gewesen war.
„Morgen? Ich will sehen, ob ich es einrichten kann, Mrs. Chrestle. Ich komme sehr gern.“
Sie war sehr nachdenklich auf dem Rückweg, denn anstatt der Lösung des Rätsels näherzukommen, hatten sich weitere, verwirrende Dinge vor ihr aufgetan. Sie sah Clarissa ähnlich – hatte Marlow sie deshalb engagiert? Aber wozu? Weshalb benahm er sich ihr gegenüber so abweisend und verführte sie gleichzeitig? Wollte er sich an ihr, Violet, für das rächen, was Clarissa ihm angetan hatte? Aber so etwas war doch verrückt.
Wie hatte sie sich nur in diesen Mann verlieben können?
Während sie eilig durch die Straßen lief, um noch vor Marlow in der Warwick Street zu sein, grübelte sie über Clarissa nach. Auch hier passte nichts zusammen. Eine junge Frau, die sich ihrem Ehemann verweigerte, die sich einen Liebhaber nahm und das Mädchen mit Ohrfeigen bedachte. Aber sie war gleichzeitig von Schwermut befallen, zog sich tagelang zurück und beendete ihr Leben durch eigene Hand. Und dann das Bild, das Mrs. Chrestle von ihrer Tochter gegeben hatte: das sanfte, verträumte Mädchen, das voller Hingabe Klavier spielte und rein, wie ein Engel war.
Nun ja – es war nichts Ungewöhnliches, dass eine Mutter ihr totes Kind in einer Art Verklärung sah. Maggy wiederum war wütend auf Clarissa – auch ihr konnte man nicht alles so einfach glauben. Aber selbst wenn man Maggys Geschwätz nicht ganz so ernst nahm: Ein Engel war Clarissa sicher nicht gewesen.
Sie war schon längst an Green Park vorbei und bog in eine Seitenstraße ein, um rasch zur Regent Street zu gelangen, als sie hörte, dass jemand ihren Namen rief.
„Miss Burke! Was für eine Freude, Sie zu treffen!“
Ein junger Gentleman in Hut und dunklem Gehrock überquerte im Eilschritt die Straße und lief auf sie zu. Gleich darauf erkannte sie den hübschen, dunkellockigen Mr. Jameson, Grace‘ bevorzugten Kunden. Violet zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, denn die Begegnung war ihr eher unangenehm, zudem war sie in Eile und wollte nicht aufgehalten werden.
Er hatte rote Wangen von der kühlen Luft, was ihm zu dem dunklen Haar ganz hervorragend stand, und seine braunen Augen leuchteten in aufrichtiger Wiedersehensfreude – Grace hatte gute Gründe, gerade diesen jungen Herrn ganz besonders in ihr Herz geschlossen zu
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