Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
wodurch man die Farbe der Tapete kaum ausmachen konnte.
Mrs. Chrestle saß in einem Lehnstuhl dicht neben dem Kamin und hatte trotz des brennenden Kaminfeuers eine Decke über den Knien. Das dämmrige Licht verwischte die Schatten auf ihrem Gesicht, weshalb sie Violet zwar blass, jedoch zugleich von einer zarten, anrührenden Schönheit erschien. Ihr Blick ruhte mit einem seltsam brennenden Ausdruck auf Violet.
„Miss Burke“, sagte sie erfreut. „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Sie die Nachricht so rasch erhalten. Bitte nehmen Sie Platz. Jenny – sorg bitte für Tee.“
Sie wies auf einen der verschnörkelten Stühle, die sich um einen kleinen, geschnitzten Tisch gruppierten, und gab dem Mädchen einen Wink, den Vorhang ein wenig beiseite zu ziehen. Ein Streifen Tageslicht durchzog den Raum wie ein heller Schleier, sodass man für einen Augenblick blinzeln musste.
„Bitte entschuldige mich, meine Liebe“, sagte Mr. Chrestle und legte liebevoll die Hand auf die Schulter seiner Frau. „Ich habe zu tun, und Miss Burke wird dir gewiss eine angenehme Gesellschaft sein.“
Als er den Raum verlassen hatte, begann Mrs. Chrestle, ein freundliches und scheinbar belangloses Gespräch. Sie erkundigte sich nach Violets Ausbildung, lobte ihr einfühlsames Spiel, erfuhr dann einiges über die Herkunft ihres jungen Gastes und lächelte verständnisvoll, als Violet ihr erklärte, sie habe die Absicht, sich ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerin und Pianistin zu verdienen. Ihre derzeitige Stellung bei Marlow verschwieg Violet vorsichtshalber.
Während des Gesprächs wanderten ihre Augen neugierig über die vielen Bilder. Besonders eines, ein Ölgemälde, das ein bezauberndes Kinderpaar in einem Parkgelände zeigte, faszinierte sie so sehr, dass sie immer wieder hinsehen musste. War sie auf der richtigen Spur?
Mrs. Chrestle war Violets Interesse keineswegs entgangen.
„Ich habe meine Lieben alle um mich versammelt“, sagte sie lächelnd. „Es ist vielleicht eine weibliche Eigenschaft, dass man an Vergangenem festhält. Das Bild, das Sie gerade betrachten, haben wir von einem bekannten Künstler anfertigen lassen. Es zeigt meine Kinder im Alter von zwei und fünf Jahren.“
„Sie sind wunderhübsch.“
Violets Herz klopfte heftig. Die beiden Kinder hatten etwas Engelhaftes und zugleich Verschmitztes an sich. Beide trugen ländliche Kleidung, der Junge hielt einen Korb roter Äpfel im Arm, an dem das kleine Mädel, das noch wackelig auf den Füßen war, sich festhielt. Beide hatten dunkles, lockiges Haar und rundliche Gesichter, in denen ein kleines Lächeln stand. Im Hintergrund sah man eine weite Parklandschaft, von einem gewundenen Wasserlauf durchquert, über den sich Trauerweiden neigten.
„Es war eine glückliche Zeit“, sagte Mrs. Chrestle versonnen. „Wenn ich zurückdenke, dann sehe ich sie vor mir, wie sie mit den Kindern der Angestellten und Freunden durch den Park getollt sind. Ach, diese vielen, fröhlichen Tage, die Familienfeier, die Geburtstage, wenn wir große Torten und Leckereien im Park aufgebaut haben, und die kleinen Gäste sich darüber her machten. John war ein hervorragender Reiter und meine Tochter Clarissa konnte sich schon als kleines Mädchen kaum von ihrem Klavier losreißen. Sie spielte mit solcher Leidenschaft und Hingabe …“
Violet spürte plötzlich einen kühlen Schauder, der ihr den Rücken hinunterlief. Es gab keinen Zweifel mehr, diese Frau war Clarissas Mutter.
Mrs. Chrestle war aufgestanden und zu einem kleinen Schreibtisch gegangen, um einen silbernen Bilderrahmen in die Hand zu nehmen, der dort aufgestellt war.
„Dies ist ein Foto meiner Tochter, das wir aufnehmen ließen, als sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie war damals gerade in die Gesellschaft eingeführt worden und besuchte ihren ersten Ball. Ach, sie hat viele Herzen gebrochen, meine hübsche Tochter.“
Violets Hände verkrampften sich, sie hatte plötzlich eine unbestimmte Angst, dieses Foto anzusehen, das Mrs. Chrestle ihr vor die Augen hielt. Doch es gab keine Möglichkeit mehr, dieser Konfrontation auszuweichen, sie selbst hatte es so gewollt.
Das Bild zeigte eine Gruppe von jungen Mädchen, alle trugen vermutlich ihr erstes Ballkleid, dazwischen posierten einige junge Herren, die ihrer Haltung etwas Lässiges zu geben versuchten. Clarissa war ein zartes Mädchen mit verträumten, dunklen Augen, die nicht auf den Fotografen, sondern irgendwohin in die Ferne gerichtet waren. Sie trug ein
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