Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
wunderbar sprechen, wenn er denn wollte. Doch er wollte so gut wie nie. Er wollte nur seine Ruhe haben. Was an Gedanken und Träumen in seinem großen Kopf hauste, darüber dachte niemand nach. Vermutlich glaubten die meisten, daß dort gar nichts passierte. Aber das war ein gewaltiger Irrtum. Emil hatte viele seltsame Gedanken, und zu jedem Gedanken gehörte ein Bild. Diese Bilder standen manchmal still, oder sie bewegten sich vor seinem inneren Auge wie ein Film, mal langsam, mal blitzschnell und funkelnd, wie Wetterleuchten. Wenn er vor dem Jokerladen hielt, sah er fächerförmig ausgebreitete Spielkarten, und zuoberst lag der Joker. Dieser Joker konnte ihm zuzwinkern oder eine Grimasse ziehen. Und dann fuhr Emil zusammen und ärgerte sich. Wenn er in den Laden ging und frisches Brot roch, sah er die Hände seiner Mutter, die einen Brotteig kneteten. Niemand machte das so wie Emils Mutter. Der Teig wurde gewalkt und geschunden und dann mit schweißnassen und fettigen Händen liebkost. Wenn er an seine Mutter dachte, nahm er ihren Geruch wahr, und ihm fiel etwas ein, was sie einmal gesagt hatte, eine für sie typische Redensart. Ihre Stimme, scharf wie ein Tranchiermesser, der Kunststoffgeruch neuer Spielkarten, der gewaltige Brotteig, das alles brauchte so viel Platz. In seinem Gehirn passierte so viel, daß für den Kontakt zu anderen kein Raum mehr war. Jede Zuwendung erschien ihm als Störung. Die Bilder gefielen ihm besser. Mit denen konnte er umgehen. Seine Mutter hielt für ihn Ordnung, sie sorgte für frische Kleidung und ein sauberes Haus. Emil nahm es hin, daß seine Mutter kam, ärgerte sich aber auch manchmal. Die Mutter redete ununterbrochen. Er hörte ihre Wörter und fand die meisten überflüssig. Sie umwogten ihn als Lärm und erinnerten ihn an Sturzwellen. Wenn sie ihren gewaltigen Redefluß losströmen ließ, schloß er sich ab und machte sein trotziges Gesicht. Aber das brachte sie nicht zum Verstummen. Sie ermahnte ihn, korrigierte ihn, kommandierte ihn und stellte Ansprüche an ihn, aber im tiefsten Herzen liebte sie ihn und machte sich große Sorgen. Hatte Angst, er könne mit anderen in Konflikt geraten, die Leute durch sein Aussehen erschrecken. Er war längst schon aus der Gesellschaft herausgefallen, und damit hatte sie sich abgefunden. Ihre Angst zielte darauf, daß andere, böse Menschen ihn verletzen oder ihn in Situationen bringen könnten, die er nicht im Griff hatte. Denn sie wußte, daß sich hinter seinem verschlossenen Gesicht gewaltige Kräfte verbargen. Sie hatte das ein einziges Mal gesehen. Eine wahnwitzige und fast hysterische Wut, die Emil blind und taub gemacht hatte. Es war ein Albtraum, den sie in Schach halten konnte, der sich aber doch manchmal in ihren Träumen zu Wort meldete. Und dann erwachte sie in Schweiß gebadet und entsetzt über das Erlebnis, über sich, über ihren Sohn. Und sie war überwältigt von dem Gedanken an all das, was passieren konnte. Wenn er Angst hatte. Oder angegriffen wurde. Ab und zu zeigte ihre Verzweiflung sich als Irritation.
»Mußt du immer diese dumme Mütze tragen?« fragte sie dann. »Du könntest dir doch eine Schirmmütze zulegen. Die würde dir besser stehen. Ich weiß, daß du dein Moped ganz toll findest. Aber weißt du, daß die Leute sich danach umsehen? Die meisten kommen mit zwei Rädern aus. Und an deinem Gleichgewichtssinn ist doch wohl nichts auszusetzen, oder?«
Sie zog eine Leidensmiene, die den Sohn kalt ließ. Danach schämte sie sich schrecklich, weil sie ihn so quälte, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Emil stellte das Dreirad vor dem Laden ab und ging hinein. Eine Zeitlang stapfte er auf breiten, weit nach außen zeigenden Füßen zwischen den Regalen hin und her. Er trug dicke Stiefel, sommers wie winters. Die Stiefel waren oben ausgeleiert, so daß er hineinsteigen konnte, ohne die Schnürsenkel zu öffnen. An seinem Arm hing ein roter Einkaufskorb aus Kunststoff, er kaufte nie soviel ein, daß er einen Wagen gebraucht hätte. An diesem Tag brauchte er Kaffee, Milch und Sahne, ein Graubrot und eine Schachtel Käse. An der Kasse nahm er sich drei Zeitungen. Der Kassiererin fielen die Zeitungen auf. Emil hatte die Lokalzeitung abonniert und kaufte sonst keine Osloer Zeitungen. In den letzten zwei Tagen hatte sich das geändert. Aber das war ja bei den meisten so, dachte die Kassiererin. Ida Joners Verschwinden beschäftigte alle, die in dem kleinen Laden kamen und gingen. Alle machten sich ihre Gedanken über
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