Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
überlegte sie.
»Bjørn hat angerufen und nach dir gefragt«, fiel ihr dann ein. »Den finde ich sehr nett. Ihr seid doch noch befreundet?«
»Ja, Himmel«, sagte Tommy. »Aber er hat keine Ahnung von Autos. Und Helge auch nicht.«
»Nein, nein. Aber Willy ist so viel älter als du. Es ist doch sicher besser, mit Leuten in deinem Alter zusammenzusein?«
»Bin ich doch«, behauptete er. »Aber ich brauche Hilfe bei dem Auto. Willy hat eine Garage. Und Werkzeug.«
Das sagte er, ohne aufzustehen. Er machte noch einen doppelten Knoten in die weißen Schnürsenkel. Seine Finger zitterten. Ruth sah das, und sie verspürte eine schwache Unruhe. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Als er endlich aufstand, hatte er sein Gesicht noch immer abgewandt. Jetzt suchte er zwischen den Kleiderbügeln nach seiner Jacke.
»Tomme«, sagte sie, jetzt sanfter. »Ich verstehe ja, wie traurig das mit dem Auto ist. Aber Ida ist verschwunden. Vielleicht ist sie tot. Ich kann es nicht ertragen, daß du dich wegen einer Beule in einem Auto so aufregst. Ich finde das zum Verzweifeln, es ist falsch!«
Ihr Ausbruch war ihm peinlich. Er wollte weglaufen, aber sie packte ihn am Arm und zwang ihn, sich umzudrehen. Zu ihrer Überraschung sah sie eine Träne.
»Tomme«, sagte sie erschrocken. »Was ist los?«
Rasch fuhr er sich mit der Hand über die Wange. »Ach, so viel«, sagte er. »Das mit Ida. Du darfst nicht glauben, daß ich nicht daran denke. Heute wird weitergesucht, aber ich weiß nicht, ob ich das über mich bringe.«
»War es so schlimm für dich?« flüsterte Ruth.
Tomme nickte. »Immer, wenn ich einen Busch untersuche, setzt mein Herz aus«, sagte er.
Dann war er verschwunden. Sie stand auf dem Flur und hörte, wie er sich entfernte. Seine Schritte waren schnell, er schien zu rennen. Ruth sank gegen die Wand. Alles ist so schrecklich, dachte sie. Das überstehen wir nicht.
*
E MIL J OHANNES WAR wie immer unterwegs mit seinem Dreirad. Es regnete nicht mehr, und der Lack funkelte in der Septembersonne patinagrün. Die Vorüberkommenden drehten sich nach dem Moped um. Es war witzig und ungewöhnlich. Auf dem Rücken trug Emil Johannes einen alten grauen Rucksack. Seine Miene war verschlossen und düster, und er konnte sich nicht entspannen, an diesem dritten Tag im September. Er hatte soviel zu bedenken. Emil Johannes behielt ein gleichmäßiges Tempo bei, fast vierzig. Er hatte die Klappen seiner Ledermütze heruntergezogen und die Schnur unter dem Kinn gebunden. Sein Anhänger war leer, und die schwarze Plane war zu einer Wurst zusammengerollt und mit einer Kordel festgebunden. Emil wollte einkaufen. Er kaufte immer bei Joker ein, denn das war ein kleiner Laden, und er wußte genau, wo alles stand. Nicht, daß er nicht suchen oder sich zum Benötigten durchwühlen konnte. Aber hier war es leicht. Und immer saß dieselbe Frau an der Kasse. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß er nie etwas sagte, und sie stürzte ihn nie in Verlegenheit. Er fand es schön, wenn immer alles gleich war. Und außerdem blieb ihm der Verkehr im Ortskern erspart.
Emil wohnte am Ende des Brennerivei. Vorbei an der Trabrennbahn und den Hang hoch, in einem kleinen, einstöckigen Haus mit Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Darunter gab es noch einen Keller. Er hatte kein Badezimmer, aber immerhin eine schöne Toilette mit Waschbecken und Spiegel. Das Haus war sauber und ziemlich ordentlich. Nicht weil Emil so tüchtig war, sondern weil seine dreiundsiebzigjährige Mutter jede Woche vorbeischaute. Sein Aussehen war beunruhigend, aber das kam auch ein wenig auf seine Stimmung an. Der Emil, den andere sahen, war ein schwerer, breiter, träger Mann, der nicht sprechen konnte. Ein Mann, der sich abwandte, wenn er angestarrt wurde, der sich sofort in Bewegung setzte, wenn jemand ihn ansprach. Trotzdem war er neugierig, vor allem aus sicherer Entfernung. Das mit der Fähigkeit zu sprechen war außerdem noch die Frage. Manche hielten Emil Johannes ganz einfach für stumm. Andere meinten, er habe aus Protest mit Sprechen aufgehört, weil ihm in seiner Kindheit etwas Schreckliches zugestoßen sei. Ab und zu nahmen die Gerüchte überhand. Dann war die Rede von einem Brand, in dem sein Vater und seine ganze Geschwisterschar in den Flammen umgekommen seien, während Emil und die Mutter barfuß im Schnee gestanden hätten und dem grauenhaften Geschrei zuhören mußten. In Wirklichkeit war Emil ein Einzelkind. Wieder andere behaupteten, Emil könne
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