Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
nicht, was sie glauben. Will es auch nicht wissen. Mir reichen meine eigenen Phantasien.«
Sie schüttelte sich, als seien vor ihren Augen entsetzliche Bilder aufgetaucht.
»Aber Ida kennt ihre Vettern und Kusinen?«
»Natürlich. Am besten kennt sie Marion und Tomme. Ruths und Sverres Kinder. Sie ist oft bei ihnen. Sie liebt ihre Tante Ruth. Ruth ist die einzige Tante, die ihr etwas bedeutet.«
»Und Ihr Schwager?« fragte er. »Was macht der?«
»Sverre ist in der Ölbranche und muß viel verreisen. Er ist fast nie zu Hause. Anders war auch viel unterwegs. Sie beklagen sich über die vielen Nächte im Hotel und darüber, wie anstrengend das ist. Aber ich glaube, sie wollen es so. Dann bleibt ihnen der ganze Alltag erspart.«
Dazu hatte er nichts zu sagen.
»Liebt Ida ihren Onkel Sverre?« fragte er leise. Sie schwieg ein Weilchen, und langsam ging ihr die Bedeutung dieser Frage auf. Dann nickte sie energisch. »Ja. Neben Anders und mir sind Ruth und Sverre Idas engste Familie. Sie war immer viel bei ihnen und fühlt sich dort wohl. Sie sind anständige Menschen.«
Das wurde mit Überzeugung gesagt. Sejer sah sich in ihrem Wohnzimmer um. An den Wänden hingen mehrere Bilder von Ida, die im Abstand von wenigen Jahren entstanden waren. Auf einem Bild hatte sie eine Katze im Arm.
»Sie liebt Tiere doch sehr«, erinnerte er sich. »In ihrem Zimmer wimmelt es nur so von Tieren. Diese Katze da, haben Sie die nicht mehr?«
Im Wohnzimmer herrschte jetzt Totenstille. Sejer war auf die Reaktion, die seine Frage hervorrief, absolut nicht vorbereitet. Helga sank am Fenster in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Dann schrie sie mit einer Stimme, die Sejer durch Mark und Bein ging.
»Diese Katze hat Marion gehört! Sie wurde überfahren. Aber Ida hat nie ein lebendiges Tier besessen! Nicht einmal eine Maus! Ich habe nein gesagt. Immer nein! Denn ich wollte kein Tier, und jetzt begreife ich diese Grausamkeit nicht. Daß sie nie ihr eigenes Kätzchen hatte, keinen kleinen Hund, nichts von alldem, was sie sich so sehr gewünscht hat, worum sie gebettelt und gefleht hat, denn ich wollte den ganzen Ärger mit Tieren nicht, mit Fell und Haaren und Dreck und Kot und allem, was dazugehört. Aber wenn sie zurückkommt, dann bekommt sie so viele, wie sie nur will. Das schwöre ich, ich schwöre!«
Danach herrschte wieder Totenstille. Helgas Gesicht war rot. Dann brach sie in lautes Schluchzen aus.
»Ich bin so dumm«, weinte sie. »Ich bin so tief unten und so unvorstellbar verzweifelt, daß ich schon überlegt habe, mir ein Hundebaby anzuschaffen. Denn dann kommt Ida sicher zurück. Sie wird das Fiepen des kleinen Hundes hören, wo immer sie jetzt ist, und sofort nach Hause rennen. So denke ich. Wie ein Kind.«
»Na ja«, sagte Sejer. »Es wäre doch Ihr gutes Recht, sich einen kleinen Hund zuzulegen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir kommen so viele seltsame Gedanken«, gab sie zu. »Total unmögliche Gedanken.« Sie wischte sich mit dem Jackenärmel die feuchten Wangen ab.
»Das verstehe ich«, sagte Sejer leise. »Dort, wo Sie jetzt sind, waren Sie schließlich noch nie.«
Sie riß die Augen auf. »Doch! Ich war schon oft dort! Ich habe mich immer davor gefürchtet. Ich habe mich darauf vorbereitet. So ist es eben, Mutter zu sein!«
»Na gut«, sagte er. »Dann sind Sie an einem Ort, den Sie sich schon oft vorgestellt haben. Ist er anders, als Sie erwartet hatten?«
»Es ist viel, viel schlimmer«, schluchzte sie.
Ruth Rix hatte ihre Tochter Marion zum Schulbus gebracht. Jetzt sah sie, wie ihr Sohn Tomme einen Milchkarton an den Mund hob. Sie schimpfte los.
»Tom Erik! Ich will das nicht, und das weißt du genau!«
Er stellte den Karton ab und wollte die Küche verlassen.
»Nimm dir ein Brot«, befahl sie.
»Hab keinen Hunger«, murmelte er.
Sie hörte ihn im Flur. Er schnürte sich seine Turnschuhe zu.
»Hast du heute nicht Studientag?« rief sie. Sie lief hinter ihm her, wollte ihn nicht weglassen.
»Ja?« fragte er und schaute hoch.
»Dann gehe ich davon aus, daß du tüchtig büffelst«, sagte sie und dachte an das letzte, wichtige Schuljahr.
»Ich schau nur kurz bei Willy vorbei. Wir wollen doch das Auto reparieren.«
Nachdenklich sah sie ihn an. Er hatte das Gesicht noch immer abgewandt.
»Du nimmst diese Beule so schrecklich wichtig«, sagte sie langsam. »Das ist doch nur ein Auto, um Gottes willen.«
Er gab keine Antwort, sondern zog nur seine Schnürsenkel straff. Hart,
Weitere Kostenlose Bücher