Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
bedankte sich für den Anruf und legte auf. Vielleicht hatte Elsa Marie Mork das Nachthemd gekauft. Und offiziell hatte sie keine Empfängerin dafür, was schon verdächtig wirken konnte. Es war kaum vorstellbar, daß die Schuldige in diesem Fall eine Frau von über siebzig sein könnte, aber vielleicht wollte sie ja jemanden decken. Margot Jansen hatte gesagt, ihr Mann sei tot. Für wen könnte eine ältere Frau sonst so ein Risiko auf sich nehmen? Die Antwort lag auf der Hand. Für einen Bruder. Oder einen Sohn.
Die Fahrt nach Giske dauerte fünfzehn Minuten. Vier zweistöckige Häuser standen in schöner Lage an einem sonnenreichen Hang. Nicht hoch genug, um die Bewohner mit schönem Blick auf den Fluß zu verwöhnen, aber immerhin im Schutze des dahintergelegenen Hügelkamms. Ein windstiller, angenehmer Ort. Es gab nirgendwo einen Sandkasten oder auch nur ein Dreirad. Hier wohnten ältere Menschen, die ihre Ruhe vor dem Lärm spielender Kinder haben wollten. Sejer las die Namen an der Klingelleiste, fand den gesuchten und drückte auf den Knopf. Dreiundsiebzigjährige konnten schwerhörig sein, vielleicht war die tatkräftige Elsa auch gerade mit Staubsaugen beschäftigt. Auf jeden Fall dauerte es. Vielleicht schaute sie zuerst durch das Fenster. Oder sie war ganz einfach nicht zu Hause. Sejer stand auf der Treppe und wartete. Endlich hörte er in der Wohnung Schritte. Scharfes Klappern, wie auf Stein. Ehe er aus dem Auto gestiegen war, hatte er sich noch einmal die Zeichnung angesehen. Und er sah sie jetzt vor seinem inneren Auge. Das strenge Gesicht mit den schmalen Lippen. Plötzlich stand sie da, dicht vor ihm. Ihr Körper wollte schon zurückweichen, sie wollte die Tür zuschlagen, wie aus alter Gewohnheit, wie bei Vertretern vielleicht.
Konrad Sejer machte eine tiefe Verbeugung. Diese Verbeugung war sein Markenzeichen, eine Geste, die sonst fast verschwunden war und nur zu feierlichen Gelegenheiten hervorgeholt wurde. Sie beeindruckte Elsa Mork, die deshalb stehenblieb. Sie achtete sehr auf gute Manieren.
»Konrad Sejer«, sagte er höflich. »Polizei.«
Sie riß erschrocken die Augen auf. Ihr Gesicht wirkte verdutzt, und ihr Blick wanderte ängstlich zu der grauen Plastiktüte, die er in der Hand hielt.
»Ich habe ein paar Fragen«, sagte Sejer und musterte die ältere Frau neugierig. Sie trug Hose und Pullover. Die Kleidungsstücke waren typisch für ältere Menschen und deren Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Sie waren bügelfrei und farbecht und wiesen allerlei besondere Details auf. Die Hose hatte einen Gummizug und eingenähte Bügelfalten. Ansonsten konnte Elsa Mork nicht als putzsüchtig bezeichnet werden. Es gab keine Spur von Schmuck oder anderem Zierrat. Ihr Gesicht war saubergeschrubbt, kein Haar hatte sich aus der Frisur befreien können. Er konnte gut verstehen, warum Margot Janson ihn angerufen hatte. Diese Frau hatte unbedingt Ähnlichkeit mit der Zeichnung. Endlich machte sie die Tür ganz auf und ließ ihn eintreten. Ihre Diele war mit graugefleckten Steinplatten belegt, wie er es sich vorgestellt hatte, und Elsa Mork trug Holzschuhe an den Füßen. Er registrierte den Geruch, der verriet, daß das Haus von älteren Menschen bewohnt war. Aber er konnte nicht so recht sagen, warum er diesen Eindruck hatte. Vielleicht lag es eher am Fehlen von Gerüchen. Diese Frau hatte etwas Knappes, was aber nichts bedeuten mußte. Sie war alleinstehend, und soeben hatte sie einen fremden Mann von eins sechsundneunzig in ihre Wohnung gelassen. Und sie schien es bereits zu bereuen.
Sie führte ihn in eine grün gestrichene Küche. Dort nickte sie zum Küchentisch hinüber, und Sejer setzte sich auf eine Stuhlkante. Danach legte er die Tüte auf den Tisch. Eine graue Plastiktüte, ohne Aufdruck oder Text. Er zog das Nachthemd heraus und breitete es auf dem Tisch aus. Dabei ließ er sie nicht einen Moment aus den Augen. Jetzt war ihr Gesicht verschlossen.
»Dieses Nachthemd ist wichtig für uns«, erklärte er. »Und ich muß ganz einfach kurz mit der Person sprechen, die es gekauft hat.«
Sie saß unbeweglich auf ihrem Stuhl, als er das sagte.
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß Sie in einem Laden so ein Nachthemd erworben haben. Am 7. September. Bei Olav G. Hanssen in der Fußgängerzone. Kann das stimmen?«
Ihr Mund wurde noch schmaler.
»Nein. Sie sehen doch, daß es zu klein für mich ist«, sagte sie mit einem gereizten Blick, der wohl andeuten sollte, daß mit seinem Augenmaß etwas
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