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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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der Ferne doch Stimmen. Sie rissen ihn aus seiner Trance. Mühsam erhob er sich und stellte die Füße auf den Boden. Er hatte in Kleidern und Schuhen geschlafen. Seine Jeans waren nach dem Aufenthalt an Deck noch immer feucht. Auf wackeligen Beinen ging er zu dem kleinen Waschbecken. Klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, ohne in den Spiegel zu schauen. Trocknete sich mit dem Handtuch ab. Es war steif und schien seine Haut zu zerkratzen. Er griff nach seiner Adidastasche und ging hinaus. Ging durch eine Unendlichkeit aus langen, schmalen Gängen. Kein Mensch war zu sehen. Dann erreichte er das Foyer und befand sich plötzlich mitten in einer Menschenmenge. Es war eine überwältigende Masse aus müden Leuten, aus Gerüchen und Stimmengewirr. Er schob sich in diese Menge hinein. Versuchte, sich unsichtbar zu machen. Schaute zu Boden. Der war mit Teppich belegt. Er folgte dem Muster mit den Augen und fing sofort von vorn an, als er damit fertig war. Kreis, Kreis, Viereck, Strich. Schleife, Viereck und Strich. Die Masse setzte sich in Richtung Ausgang in Bewegung. Er ließ sich willenlos treiben. Durch den Zoll, wo niemand ihn eines Blickes würdigte, dann in Richtung Stadt. Auf dem Egertorg blieb er für eine Minute stehen. Er starrte zum Eingang zur U-Bahn hinüber, sah das weiße Schild mit dem blauen T. Versuchte, sich ein Bild zu machen, das er später anderen zeigen könnte. War das nicht Willy, der gerade die Treppe hinunterlief? Die knochigen Schultern, die er so gut kannte? Die dunkelblaue Windjacke? Er sah das ganz deutlich. So deutlich, daß er es später auch würde beschreiben können. Etwas in ihm fing an zu ticken. Es gab ihm das Gefühl, explosiv zu sein. Es würde eine Weile weiterticken, und am Ende würde alles in Fetzen gesprengt werden. Er ging weiter zum Universitetsplass. Und dort wartete er auf den Bus.
    *

D IE Z EITUNGEN BRACHTEN ein Bild von Idas Nachthemd. Zwei Personen meldeten sich sofort und konnten aus dem Fall ausgeschlossen werden. Ihre Nachthemden waren außerdem in der falschen Größe. Aber die ältere Frau, die am 7. September eingekauft hatte, und zwar das Nachthemd für eine Vierzehnjährige, ließ nichts von sich hören.
    »Wir versuchen es mit einer Zeichnung«, sagte Sejer.
    Das Porträt entstand nach Anweisungen der Verkäuferin bei Olav G. Hanssen und wurde ebenfalls in den Zeitungen gebracht. Das Bild zeigte eine ältere Frau mit großen Ohren und hervorstehenden, runden Augen. Ihr Gesicht war lang und scharf gezeichnet, und wenn es überhaupt ein Gefühl zum Ausdruck brachte, dann Mißtrauen. Der Mund war gerade und schmal, die Haare waren voll und straff frisiert. Neben diesem Frauengesicht war abermals das Nachthemd abgebildet. Jetzt wußte ganz Norwegen, wie Ida gekleidet gewesen war, als sie am Straßenrand in Lysejordet gefunden worden war.
    Die Möglichkeit, daß jemand anrufen und diese Frau benennen würde, war groß. Das Publikum liebte Phantomzeichnungen, und diese hier war gut gelungen.
    Der dritte Anruf erregte durch einen einfachen Kommentar Sejers Aufmerksamkeit.
    »Ich kenne eine Frau, die dem Bild sehr ähnlich sieht. Sie ist im Frühling dreiundsiebzig geworden, aber sie hat keine Enkelin oder andere Verwandte, denen diese Größe passen würde«, sagte die Stimme voller Überzeugung. Sie schien einer älteren Frau zu gehören. Die Frau stellte sich als Margot Janson vor.
    »Sie trägt Größe 44«, sagte sie dann. »Ich kenne sie seit zwanzig Jahren. Sie putzt bei mir. Ich habe mir den Oberschenkelhals gebrochen, wissen Sie, und Gott weiß, was ich ohne sie machen sollte. Sie kommt jede Woche, und glauben Sie ja nicht, daß sie schlampt. Sie wohnt in Giske, in den Vierparteienhäusern. Ihr Mann ist schon lange tot.«
    Sejer machte sich derweil fortlaufend Notizen.
    »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie etwas mit diesem Fall Ida zu tun haben könnte, und ich begreife nicht, warum ihr Bild in der Zeitung ist. Sie ist der anständigste Mensch, den ich kenne. Aber die Zeichnung hat wirklich große Ähnlichkeit mit Elsa. Mit Elsa Marie Mork.«
    Sejer notierte sich Namen und Adresse.
    »Sie ist überall dabei, sie ist sogar Mitglied des Sanitätsvereins. Eine patente Frau, das kann ich Ihnen sagen, sie schont sich wirklich nicht. Und ihr Leben war auch nicht gerade leicht. Aber darüber will ich nicht weiter reden, ich bin nämlich keine, die gern Gerüchte in die Welt setzt.«
    Sagte Margot Janson.
    Jetzt war Sejers Neugier wirklich geweckt. Er

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