Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
kurz aufschrie. Ruth kam angestürzt.
»Soll ich für dich rangehen?«
»Nein!«
Helga riß den Hörer von der Gabel und rief ihren Namen.
Dann sank sie in sich zusammen. »Nein, sie ist nicht gekommen«, weinte sie.
»Es ist fast halb zwölf, und sie ist um sechs gefahren. Ich kann nicht mehr!«
Ida Joners Vater verstummte am anderen Ende der Leitung.
»Und die Polizei?« fragte er ängstlich. »Wo ist die?«
»Die ist nicht mehr hier, aber sie suchen. Sie wollen auch Freiwillige dazuholen, aber sie rufen nicht an! Sie finden sie nicht!«
Ruth wartete in der Küchentür. Der Ernst traf sie beide. Draußen war es dunkel, fast Nacht. Ida war dort irgendwo und konnte nicht nach Hause kommen. Helga konnte nicht sprechen. Etwas zu essen war ihr unvorstellbar. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nirgendwo hingehen. Konnte nur warten, wie ihre Schwester, die Arme fest umeinander gelegt, während die Angst wie ein Blutsturm in ihren Ohren tobte.
*
W AS HABEN K INDER eigentlich immer mit Süßigkeiten«, sagte Sejer. »Dauernd wollen sie Süßigkeiten. Haben alle Kinder zu niedrigen Blutzucker?«
Skarre lehnte sich an den Schreibtisch.
»Ida wollte sich eine Zeitschrift kaufen«, wandte er ein.
»Und für das restliche Geld Süßigkeiten«, sagte Sejer. »Bugg . Was ist das überhaupt?«
»Kaugummi«, erklärte Skarre.
Zwei Stunden sind nichts, dachte Sejer und starrte auf seine Armbanduhr. Immerhin ging es um eine Zehnjährige. Sie konnte fragen und um Hilfe bitten. Aber jetzt war es ein Uhr. Draußen herrschte schwarze Septembernacht, und Ida war seit mehr als sieben Stunden verschwunden. Dann hörte er ein schwaches Dröhnen. Zuerst horchte er verwundert. Regen, dachte er. Ein richtiger Schauer. Er hämmerte gegen die Fenster der Wache und wusch in stetigen Strömen Staub und Schmutz von der Scheibe. Er hatte sich Regen gewünscht. Alles war so trocken. Jetzt kam der Regen ungelegen. Etwas in seinem Körper tat weh, eine Mischung aus Unruhe und Eifer. Er wollte nicht die Hände um einen Stapel Papier legen, er wollte in die Dunkelheit hinaus und nach Ida suchen. Das Rad, dachte er dann. Chromgelb und nagelneu. Auch das war nicht gefunden worden.
»Sie kann mit dem Rad umgekippt sein«, sagte Skarre. »Vielleicht liegt sie bewußtlos in einem Straßengraben. Das kommt doch vor. Oder sie ist jemandem begegnet, der sie einfach becirct hat. Einem verantwortungslosen, aber herzensguten Menschen. Wie Raymond. Kannst du dich an Raymond erinnern?«
Sejer nickte. »Er hatte Kaninchen. Mit denen konnte er kleine Mädchen anlocken.«
»Und Ida ist verrückt nach Tieren«, überlegte Skarre. »Aber sie kann auch von zu Hause durchgebrannt sein, wegen eines Problems, über das ihre Mutter nicht sprechen will. Vielleicht schläft sie in irgendeiner Scheune. Fest entschlossen, ihre Mutter zu bestrafen.«
»Sie hatten sich nicht gestritten«, wandte Sejer ein.
»Auch der Vater kann damit zu tun haben«, sagte Skarre darauf. »So was kommt vor. Ein Lehrer, irgendeine erwachsene Person, die sie kennt, kann sie aufgelesen haben. Aus uns unbekannten Gründen. Vielleicht hat sie Zuwendung und Essen bekommen. Die Menschen tun so seltsame Dinge«, sagte er. »Wir denken das Schlimmste, weil wir diese Arbeit schon zu lange machen.«
Skarre öffnete einen Hemdenknopf. Das Halbdunkel in Sejers Büro und die Stille im Raum waren geladen.
»Wir haben einen Fall«, schloß er.
»Vermutlich«, nickte Sejer. »Und viel können wir nicht machen. Wir können nur warten. Bis sie auftaucht, in irgendeiner Verfassung.«
Skarre drückte sich vom Schreibtisch ab und lief zum Fenster.
»Ist Sara schon weg?« fragte er, mit dem Rücken zu Sejer. Der Asphalt auf dem Parkplatz vor der Wache glitzerte im Regen schwarz und ölig.
»Ja. Heute morgen. Sie bleibt vier Monate dort«, sagte Sejer.
Skarre nickte. »Forschung?«
»Sie wird sich in die Frage vertiefen, warum manche Menschen kleinwüchsig sind«, sagte Sejer lächelnd.
»Aha«, schmunzelte Skarre. »Du mit deinen zwei Metern kannst ihr da nicht helfen.«
Sejer schüttelte den Kopf. »Es gibt eine Theorie, nach der sie gar nicht wachsen wollen«, sagte er. »Manche Menschen weigern sich einfach, groß zu werden.«
»Jetzt machst du doch Witze, oder?«
Skarre wandte sich vom Fenster ab und musterte den Chef mit großen Augen.
»Nein, nein. Ich mache keine Witze. Oft sind die Erklärungen viel einfacher, als wir glauben. Das sagt jedenfalls Sara.«
Er schaute unwillig auf
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