Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
werden«, meinte Skarre. Holthemann schwieg. Er war keiner, der im unpassenden Moment Witze riß, und er hatte längst aufgehört, seinen allerbesten Kommissar zu unterschätzen. Sejer ließ sich nichts anmerken. Wenn sich allein etwas erreichen ließ, indem er mit Emil Johannes im Vernehmungsraum saß und glotzte, dann wollte er gerne dort sitzen und glotzen. Genauer gesagt, er wollte versuchen zu verstehen. Wenn er nur Leute festnehmen und ihnen ein Geständnis entlocken sollte, dann wäre seine Arbeit für ihn sinnlos. Er wollte gern genau wissen, warum dieses Entsetzliche passiert war, er wollte den Gedanken des Gegenübers folgen können und alles mit dessen Augen sehen. Wenn das möglich war, dann konnte er auch einen Schlußstrich unter den Fall ziehen. Es gab zwar Fälle, bei denen sich dieses Verständnis nicht einstellte, und die machten ihm später immer wieder zu schaffen. Aber das kam nur selten vor. Das mit Ida dagegen verstand er nicht. Sie wurde von allen als zutrauliches Mädchen beschrieben, wohlerzogen und entgegenkommend. Natürlich konnte sie Seiten haben, die die anderen nicht kannten. Oder die sie nicht erwähnen mochten. Um Ida nicht im Nachhinein anzuschwärzen. Kinder konnten erbarmungslos sein. Das wußte Sejer.
Emil Johannes wartete in der Zelle. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Er saß vor dem kleinen Tisch am Fenster und hatte seine riesigen Hände auf seinem Schoß gefaltet. Die Zelle bot keine großartige Aussicht, doch das wenige, was er sah, sah er sich genau an. Die Dächer. Den Wipfel einer Tanne, den hinteren Reifen eines Fahrrads. Einen Zaun, dahinter eine wenig befahrene Straße. Jetzt kam eine Frau des Wegs. Emil ließ sie nicht aus den Augen. Wahrscheinlich ging sie einkaufen. Deshalb waren die Leute unterwegs, sie mußten etwas für zu Hause besorgen. Seine Mutter zum Beispiel kaufte jeden einzelnen Tag etwas im Laden. Sie aß fast nichts, und sie drehte jede Münze dreimal um. Trotzdem mußte sie in den Laden, als eine Art Ritual, als Ereignis des Tages. So ging es Emil auch. Er zog vor der Fensterscheibe einen Schmollmund.
»Nein«, sagte er laut. Er fuhr herum und schaute die Tür an. Die hatte eine Luke. Vielleicht stand jemand draußen und schaute herein. Dann dachte er an den Vogel. Wasser und Futter reichten vielleicht für drei Tage. Danach würde der Vogel auf seiner Stange hocken und auf das Geräusch von Schritten horchen. So lange er Wasser hatte, würde er trotzdem durchhalten. Aber Emil wußte, daß Heinrich ab und zu mit dem Schnabel nach dem Trinknapf schlug. Manchmal gelang es ihm, den Napf aus der Befestigung an den Gitterstäben loszureißen. Und dann bekam er nasse Füße und hielt sich nur mit einem Fuß an der Stange fest, während er den anderen heftig schwenkte, um ihn zu trocknen. Emil fand keine Ruhe. Es war ungewohnt für ihn, so dazusitzen, vollständig untätig. Die Zelle war so klein, so nackt und so fremd. Er fuhr mit den Fingern über den Tisch. Das Holz wies viele Risse und Kerben auf. Seine Augen wanderten an den vier Beinen entlang zu Boden. Das Linoleum war verschlissen und zerkratzt, aber sauber. Er ging zum Schrank und schaute hinein. An einem Haken hing seine Jacke. Unten im Schrank standen seine Stiefel, die ohne die Schnürsenkel armselig aussahen. Er kniete sich vor die Pritsche und berührte die Decke, eine Art Steppdecke mit gemustertem Bezug. Er berührte die Lampe, verbrannte sich aber am Schirm. Er ließ die Finger über das Wandregal wandern, worauf sie staubig wurden. Er packte den Vorhang und drückte den Stoff zusammen, schnupperte daran. Der Stoff war dick und steif. Er schaute unter das Bett. Dort war niemand. Am Ende setzte er sich wieder an den Tisch. Er war überall gewesen. Noch einmal hauchte er das Fenster an. Es beschlug, und er konnte daran zeichnen. Es war wie eine sich immer wieder von selbst reinigende Tafel. Aber er war ein schlechter Zeichner. Er wollte so gern alles erklären. Er wußte, daß sie ihm Bleistift und Papier bringen würden, weil sie hofften, daß er vielleicht schreiben könnte. Aber er war auch kein besonders guter Schreiber, und er wollte nicht herumgrunzen, während andere zuhörten.
Er war es auch nicht gewöhnt, anderen die Hand zu geben. Hatte die kleine Bewegung, die einen Händedruck ausmacht, nie gelernt. Sejer zeigte auf den leeren Stuhl, und der untersetzte Mann versuchte, sich niederzulassen. Es fiel ihm nicht leicht, eine bequeme Haltung zu finden. Sejer fing an zu
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