Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
reden, aber er wählte seine Worte sehr sorgfältig aus. Emil hörte zu. Nichts in seinem breiten Gesicht ließ annehmen, daß er nichts begriff, aber es brauchte Zeit. Zuerst mußte der Satz sinken, danach interpretiert und verstanden werden, bis die Reaktion sich in Form eines Zwinkerns der grauen Augen oder eines Zuckens im Mundwinkel einstellte. Immer wieder suchten seine Augen Sejers Blick, wichen aber aus, wenn ihr Blick erwidert wurde. Er beobachtet mich heimlich, dachte Sejer.
»Das wird vielleicht nicht einfach«, sagte er. »Aber nichts ist unmöglich. Das denke ich jedenfalls gern.«
Emil hörte zu und verstand. Saß ganz gerade da und wartete darauf, wie es weiterging.
»Ein Mädchen namens Ida Joner aus Glassverket ist verschwunden«, sagte Sejer. »Und zwar am 1. September. Später wurde sie bei Lysejordet am Straßenrand gefunden. Und da war sie tot«, sagte er ernst und schaute dabei zu Emil hinüber. Der nickte. Sieh an, sagte Sejer. Du kannst nicken. Das ist ja schon mal was.
Emil Johannes hörte noch immer zu, seine gefalteten Hände lagen auf der Tischplatte.
»Wenn so etwas passiert, dann müssen wir uns um sehr viele Einzelheiten kümmern«, sagte Sejer. »Oft können wir den Toten ansehen, was passiert ist. Bei Ida können wir das nicht. Viele von uns arbeiten an diesem Fall, aber wir kommen einfach nicht weiter. Und die Ärzte auch nicht. Ich muß aber eine Erklärung finden. Weil das meine Arbeit ist«, sagte er, »aber auch, weil ich neugierig bin.«
Hier legte er eine Pause ein. Weil er langsam und deutlich sprach, verstand Emil genau, was er sagte. Sejer nahm sich ein Fisherman’s Friend und schob die Tüte Emil zu, der die graubraunen Pastillen zögernd betrachtete. Danach steckte er eine in den Mund. Und machte ein überraschtes Gesicht.
»Ja«, sagte Sejer. »Die sind stark. Das verschlägt einem fast den Atem, was?«
Emil schob die Pastille in die andere Backe.
»Wir Menschen können so viel ertragen«, sagte Sejer jetzt. »Wenn wir nur eine Erklärung bekommen. Idas Mama hat keine Erklärung. Es ist schwer, weißt du«, fügte er nachdenklich hinzu, »ein kleines Mädchen zu verlieren. Und sie später begraben zu müssen, ohne zu wissen, warum.«
Emil Johannes traten die Tränen in die Augen, aber das konnte auch an der scharfen Pastille liegen, die jetzt gerade auf seiner Zunge schmolz.
»Es gibt vieles, was ich nicht sagen kann«, erklärte Sejer. »Das liegt an den Vorschriften. Du mußt dich einfach damit abfinden. Aber wir haben einige Dinge gefunden, die dich mit Ida in Verbindung bringen. Wir glauben, daß du sie gekannt hast. Vielleicht hat auch deine Mutter sie gekannt«, fügte er hinzu. »Das ist ganz unbestreitbar. Es sind Dinge, die sich einfach nicht anders erklären lassen.«
Er legte die Hände auf den Tisch. Sejers Hände waren im Vergleich zu Emils groben Pranken lang und schmal.
Er wartete auf ein Nicken des anderen, das blieb jedoch aus.
»Du weißt etwas darüber, Emil. Und ich auch. Also erzähle ich dir jetzt etwas. Ich weiß, daß Ida in deinem Haus war, nicht nur einmal, sondern vielleicht mehrere Male, im vergangenen Jahr, meine ich.«
Er sah Emil an. Er mußte das jetzt richtig formulieren.
»Würdest du das bestreiten?«
Emil mühte sich mit der Pastille ab.
»Nein«, sagte er.
Die Antwort kam klar und deutlich. Sejer spürte, wie die Erleichterung durch seinen Körper schäumte.
»Wie gut«, sagte er laut.
Der schweigsame Mann würde vielleicht doch eine Aussage machen. Wenn alles nach seinen eigenen Bedingungen ablief.
»Ida war ein entzückendes Mädchen«, sagte Sejer jetzt. »Ich meine, auch da gibt es ja Unterschiede. Aber Ida war wirklich entzückend. Oder was meinst du, Emil? War sie entzückend?«
Emil nickte und war ganz dieser Ansicht.
»Und so ein Mädchen wollen sich sicher viele krallen, wenn sie nur können. Um sie auszunutzen. Wozu auch immer. Du weißt doch sicher, was ich meine?«
Er musterte Emil und registrierte, daß dessen Blick ein wenig auswich.
»Verstehst du, wovon ich hier rede?« beharrte Sejer. Wieder nickte Emil.
»Aber sie war mehrere Male bei dir. Also ist sie zu dir zurückgekommen. Und das bedeutet, daß du nett zu ihr gewesen bist. Aber ich muß dich das doch fragen, auch wenn es schwer für dich ist. Hast du Ida wehgetan?«
»Nein!« sagte Emil Johannes.
Sein Körper wurde plötzlich unruhig. Seine Hände machten sich auf dem Tisch zu schaffen, fuhren zu seinem Hals hoch und spielten an
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