Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
allem, weil ich überhaupt nichts mehr kapiert habe. Und weil ich es so schrecklich fand, keine Erklärung zu haben.«
Ruth, die die ganze Zeit gestanden hatte, mußte sich gegen einen Sessel lehnen.
»Sei jetzt erwachsen, Tomme«, befahl Sejer. »Wenn du Willy zuletzt gesehen hast, als er bei steifer Brise an Deck herumtorkelte, und das noch dazu betrunken, dann verheißt das wirklich nichts Gutes. Sieh mich jetzt an und antworte. Bist du eigentlich davon überzeugt, daß er ins Wasser gefallen ist?«
Tomme schlug die Hand vor den Mund. Ihm quollen die Augen aus dem Kopf. Es tickte noch immer, jetzt aber leiser.
»Davor habe ich doch solche Angst«, wimmerte er.
»Ich kann einfach nicht verstehen, warum du niemanden um Hilfe gebeten hast«, sagte Sejer. »Ich gebe mir ja Mühe, aber es fällt mir schwer.«
»Ich bin im Moment wohl nicht ganz bei mir«, sagte Tomme. »In der Familie ist soviel passiert, mit Ida und so. Das alles ist einfach zuviel.«
»Dann hat Willys Mutter hier angerufen und nach ihm gefragt. Und du hast noch immer nichts gesagt?«
»Da war es zu spät«, stöhnte Tomme. »Und ich habe doch nichts getan. Ich wollte nur weg von allem. Ich fühle mich schon irgendwie schuldig«, fügte er hinzu. »Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen. Wenn seine Mutter mir da Vorwürfe macht, dann kann ich das verstehen. Aber er wollte einfach nicht mit in die Kabine kommen.«
»Mm«, sagte Sejer ernst. »Ich denke eigentlich an ganz andere Dinge.«
Tomme schaute rasch auf. Etwas in Sejers Stimme kam ihm beunruhigend vor.
»Willy hatte eine Tasche bei sich«, erklärte Sejer. »Eine schwarze Nylontasche mit einem weißen Puma auf der Seite. Die du für ihn durch den Zoll bringen solltest. Was hast du damit gemacht?«
Tomme riß erschrocken die Augen auf.
»Nichts«, sagte er verwirrt.
»Wenn Willy im Suff über Bord gefallen ist, dann muß die Tasche noch in der Kabine gewesen sein. Da war aber nichts. Ich habe mich vorhin erkundigt. Alle vergessenen Gegenstände werden genau registriert, und in der von Willy gebuchten Kabine wurde keine Nylontasche gefunden. Und da ist also die Frage: Hat jemand ihm die Tasche hinterhergeworfen? Und wenn ja, warum?«
Tomme wollte keine Antworten mehr geben. Er fand, er sei weit genug gegangen. In ihm war es jetzt ruhiger. Nicht ganz still, aber es kam ihm immerhin wie eine Pause vor.
»Erste Version«, sagte Sejer ernst. »Ihr geht zusammen an Land. Willy verschwindet auf dem Egertorg in der U-Bahn. Zweite Version: Du verläßt ihn an Deck. Er ist sturzbetrunken und torkelt umher, er will nicht mit dir kommen, und du gibst auf und gehst schlafen. Am nächsten Morgen ist er verschwunden. Wir sprechen uns wieder«, sagte Sejer. »Du kannst dir so lange schon mal die dritte und letzte Version überlegen.«
*
D IE T AGE VERGINGEN . Willy Oterhals tauchte nicht auf, die Zeitungen brachten die Vermißtenmeldung. Anders als Ida bekam er nur eine kurze Notiz. Junger Mann nach Kopenhagenreise vermißt, das stachelt die Neugier der Leute nicht an. Sie glauben sofort zu wissen, was passiert ist, und blättern weiter. Sejer setzte die Vernehmungsrunden mit Elsa Mork fort. Wie immer preßte sie die Knie aneinander und hatte die gefalteten Hände auf dem Schoß liegen.
»Wir haben um eine fachliche Einschätzung Ihres Sohnes gebeten«, sagte Sejer. »Das dauert sicher seine Zeit. Und bis dahin muß ich Sie fragen. Sie kennen Emil am besten. Wie lange ist er zur Schule gegangen?«
Elsa überlegte eine ganze Zeit. An den Methoden dieses Mannes gab es nichts auszusetzen. Er war überaus korrekt. Das hatte sie nicht erwartet, sie war eher in der Defensive, jetzt. Es tat gut, mit jemandem zu reden, der bereit war, zuzuhören. Daß sie endlich über Emil sprach, war ein ganz neues Erlebnis für sie. Sie hatte ihn immer verdrängt und fast nicht erwähnt. Hatte nur einsilbig geantwortet, wenn beim Nähkränzchen jemand nach ihm gefragt hatte. Hatte fast so getan, als gebe es ihn nicht, als sei er kein Problem. Aber das war er doch. Und jetzt redete sie. Und weil sie über ihn reden mußte, sah sie ihn auch deutlich.
»In der Volksschule ist er bis ins zweite Schuljahr hinein mitgekommen«, sagte sie. »Dann haben sie ihn auf die Sonderschule überführt. Da war er dann sich selbst überlassen. Er hat gesprochen, aber nur sehr wenig. Und es wurde immer weniger. Er schrieb ein paar jämmerliche Buchstaben oder zeichnete, das aber nur sehr ungeschickt. In der Regel nagte er
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