Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
einfach nur an seinem Bleistift. Wenn er aus der Schule nach Hause kam, war er oft ganz schwarz um den Mund. Buchstaben und Zahlen schienen ihm angst zu machen. Aber er spielte gern«, erinnerte sie sich. »Mit Figuren. Oder Autos und Klötzchen. Dann erwachte er sozusagen zum Leben.«
»Ist jemals ein IQ-Test mit ihm gemacht worden?«
»Es gab einige Versuche. Aber er schob alles weg, Papier und Bilder und alles, was dazu angeschleppt wurde.«
»Seine mögliche intellektuelle Kapazität ist also fast ein Rätsel? Niemand weiß etwas darüber?« fragte Sejer.
»Er weigert sich bei solchen Versuchen mitzumachen«, sagte Elsa. »Wir haben auch nie eine klare Erklärung darüber erhalten, was ihm nun eigentlich fehlt. Ein Arzt hat den Ausdruck ›extremes Zurückweichen‹ benutzt. Aber das hilft uns ja auch nicht. Seit er erwachsen ist, beschränke ich mich darauf, ihm im Haus zu helfen. Er will mich ohnehin nicht zu dicht an sich heranlassen. Und mir fehlt die Kraft, es zu versuchen«, sagte sie müde. »Er ist zweiundfünfzig. Was ich bisher nicht geschafft habe, werde ich niemals schaffen.«
»Wie war das mit der Geburt?« fragte Sejer. »Ist die normal verlaufen?«
»Ja«, sagte sie. »Da war alles in Ordnung. Aber ich kann Ihnen sagen, es hat gedauert. Er war so groß«, sagte sie, an die Tischplatte gewandt, mit geröteten Wangen, weil sie über solche Dinge mit einem fremden Mann sprach.
»Wenn ich Sie nun frage, worüber Emil sich wirklich freuen könnte, was ihn wirklich interessiert oder auch was ihn wirklich wütend macht, was sagen Sie dann?«
Sie rutschte im Sessel hin und her. Es war ein angenehmer Sessel, aber sie wußte, daß sie nicht lange dort sitzenbleiben würde.
»Das weiß ich eigentlich kaum«, sagte sie. »Er ist immer gleich. Wenn er ein seltenes Mal Gefühle zeigt, dann, weil er gereizt ist. Oder trotzig. Ich glaube, er ist niemals froh«, gab sie zu. »Gibt es denn überhaupt einen Grund, froh zu sein?«
Sie schaute zu ihm hoch, weil sie sich ein wenig Mitgefühl wünschte.
Sejer stand auf und ging langsam im Zimmer hin und her. Einerseits, weil er ein Bedürfnis danach verspürte, andererseits aus Rücksicht auf Elsa, der er dadurch eine Atempause verschaffte. Eine Möglichkeit, sich ein wenig in ihren eigenen Gedanken zu verkriechen. Er wußte, daß sie ihn derweil beobachtete, daß sie gerade in diesem Moment verstohlen seinen Rücken musterte. Vielleicht bildete sie sich ein Urteil über seine Kleidung, ein anthrazitgraues Hemd mit schwarzem Schlips und eine hellere graue Hose mit scharfer Bügelfalte.
»Was ist mit Frauen?« fragte er nach einer Pause. »Zeigt Emil Interesse an Frauen?«
Allein diese Vorstellung schien ihr ein Lächeln zu entlocken, das sie jedoch gleich unterdrückte.
»Über solche Dinge sprechen wir nie«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was er macht, wenn ich nicht dabei bin, aber ich habe niemals Zeitschriften oder andere Dinge gefunden, die darauf hingewiesen hätten. Wie sollte er denn überhaupt eine Frau finden? Ich habe ihm so oft gesagt, daß er das niemals schaffen wird, und er weiß es auch selbst.«
Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Nicht einmal das einsamste Geschöpf auf der ganzen Welt würde sich doch mit Emil einlassen.«
Was für eine ungeheuer unbarmherzige Behauptung, dachte Sejer, sagte das aber nicht laut.
»Haben Sie sich je die Möglichkeit überlegt, daß er spricht, wenn er allein ist?«, fragte Sejer. »Daß er mehr kann, als er zugibt?«
Sie zuckte mit den Schultern. Dachte über diese Frage nach.
»Ja, überlegt habe ich mir das schon. In meinen verzweifeltesten Momenten. Aber eigentlich halte ich das nicht für möglich.«
»Vielleicht spricht er mit dem Vogel«, meinte Sejer. »Mit Heinrich dem Achten.«
Sie lächelte kurz. »Der Vogel sagt nein«, sagte sie. »Er sagt nein, wie Emil Johannes.«
»Was ist mit Kindern?« fragte er. »Kommt er mit Kindern gut zurecht?«
»Die haben Angst vor ihm«, sagte sie rasch. »Das liegt doch auf der Hand. So, wie er aussieht. Sie lachen über ihn, oder sie haben Angst vor ihm. Nein, mit Kindern kommt er überhaupt nicht zurecht.«
»Ein Kind würde also niemals freiwillig mit ihm gehen? Würden Sie das so sagen?«
Sie nickte voller Überzeugung.
»Bei Emil war noch nie irgendein Kind«, sagte sie energisch.
»Doch«, widersprach er leise. »Da war eins. Ida Joner war mehrere Male in seinem Haus.«
»Das können Sie ja wohl nicht wissen«, sagte sie
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