Schwarze Stunde
Corvin sitzt dann meist hinten und schreibt mit. Ich mag es, wenn er da ist. Ruhe und Frieden breiten sich in mir aus, wenn ich weiß, er ist im Raum, auch wenn wir uns die ganze Stunde über nicht ansehen, weil niemand etwas mitbekommen darf. Aber ich spüre seine Gegenwart mit jeder Faser meines Körpers, sie macht mich warm und entspannt, nicht nervös; wie nie zuvor kann ich mich in diesen Stunden auf den Unterricht konzentrieren, melde mich oft und sage fast alles richtig, schreibe zügig auf, was Frau Bollmann von uns verlangt, lese Texte flüssig vor, wenn ich dazu aufgefordert werde. Das alles funktioniert einfach, ohne dass ich mich besonders anstrengen oder hervortun muss. In Englisch war ich schon immer gut, deshalb fällt es zumindest niemandem auf. Wenn jemand Hilfe braucht, gebe ich sie ihm, wenn einer meine Hausaufgaben abschreiben will, ebenfalls. Und Corvin sitzt hinten und macht sich seine Notizen. Ab und zu fühle ich seinen Blick von hinten auf mir ruhen. Seine Nähe tut mir gut.
Noch mehr liebe ich es, wenn er aufsteht und durch den Klassenraum streift, um uns beim Schreiben über die Schulter zu sehen. Während ich mich über mein Ringbuch beuge und schreibe, höre ich seine langsamen Schritte, spüre genau, wie weit er von mir entfernt ist, auch ohne aufblicken zu müssen. Manchmal höre ich ihn flüstern, wenn er jemandem etwas erklärt, ihn auf Schreibfehler hinweist. Natürlich warte ich jedes Mal, dass er auch zu mir kommt, und wenn er dann hinter mir steht, spüre ich seine Körperwärme, auch ohne dass er mich berührt.
»Hier hast du ein Wort doppelt geschrieben«, sagte er zum Beispiel heute und tippte mit dem Zeigefinger auf das vor mir liegende Blatt. Die erste Schulwoche ist fast vorbei, aber die Erinnerungen an unseren gemeinsamen Flug sind noch immer frisch und steigen in mir auf, als wäre alles erst gestern passiert. Seine Hand, die ich im Flugzeug schon bewundert habe. Seine gut gefeilten Fingernägel, die ganz leicht gebräunte Haut, die fein durchschimmernden Adern.
»Oh, danke«, antwortete ich, ohne aufzuschauen und löschte das überflüssige Wort, gleich darauf war Corvin schon bei der nächsten Schülerin, bei Carla, die erst recht keinen Fehler macht und strahlt, als er Worte der Anerkennung für sie findet. Nicht auffallen, unter keinen Umständen.
Manchmal, wenn wir uns auf der Treppe begegnen, lacht er mich von Weitem an, zumindest hoffe ich, dass er mich meint. Wenn ich mit Alena, Fiona und Yuki zusammen bin oder in einer noch größeren Gruppe gehe und er uns zulächelt oder zuwinkt, flippen sie fast aus.
»Herr Schwarze hat so ein süßes Lächeln!«, schwärmt Fiona gerade. Wir haben große Pause, er steht mit Frau Bollmann, die Hofaufsicht hat, unter der großen Platane mit den Bänken um den Stamm und redet mit ihr, ernst und konzentriert hört er zu, beißt von einem Apfel ab und nickt. Dann scheint sie irgendetwas Erheiterndes zu sagen und lächelt, tritt einen Schritt auf ihn zu und wischt mit der flachen Hand etwas von seinem T-Shirt, einen Fussel oder Krümel vielleicht, er lacht auch und schüttelt den Kopf. Dabei entdeckt er uns. Fiona winkt zu ihm hinüber, und auch er hebt seine Hand, Frau Bollmann nickt uns freundlich zu, dann lässt sie ihren Blick über den Schulhof schweifen, aber es scheint nichts Aufregendes zu passieren, keine Schlägereien, keine heimlichen Raucher. Jetzt stellt sie sich so, dass Corvin von ihr verdeckt wird, und scheint ihren Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Er sieht nicht mehr zu uns hin.
»Er ist so unglaublich cool«, seufzt Fiona erneut. »Aber so wie es aussieht, ist Frau Bollmann schon dabei, ihn sich zu angeln, oder was meint ihr? Sieht es nicht danach aus?«
»Sie würden gut zusammenpassen«, stimmt Yuki ihr mit ruhiger Stimme zu und will weitergehen. »Auch wenn sie wahrscheinlich ein paar Jahr älter ist als er. Ein schönes Paar würden sie abgeben.«
»Eine ältere Frau passt nicht zu Herrn Schwarze!« Fiona bleibt stehen, als wären ihre Füße am Boden festgenagelt. »Sieh ihn dir doch mal an, wie alt wird er sein? Bestimmt nicht mal dreißig. Kommt, wir fragen ihn einfach!« Sie hakt Yuki unter und will sie mitziehen, wirft auch Alena und mir einen herausfordernden Blick zu. Ich spüre, wie eine kalte Hand nach meinem Herzen greift und der Boden sich unter meinen Füßen auftut. Ich will das nicht; will weder mit den Dreien wie eine Hühnerschar zu Corvin rennen und ihn kichernd nach seinem Alter
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