Schwarze Stunde
kleine Tischplatte, die an meinem Stuhl angebracht ist. Im Musikraum haben wir solche Stühle, weil es hier keine Tische gibt, vor gefühlten hundert Jahren hat jemand ein Herz und zwei Initialen in das Holz geritzt, mit einem Zirkel wahrscheinlich, unvergängliche Beweise einer längst verblichenen Liebe. Bleib cool, beschwöre ich mich innerlich, er wird nichts von Black Hour singen und wahrscheinlich auch nichts von seinen Eigenkompositionen, er wird uns irgendeinen Song beibringen, der im Lehrplan steht, harmlose leichte Kost, schließlich ist es seine erste Stunde als Musiklehrer. Er nimmt sein Instrument aus dem Koffer und stimmt es, während Frau Lindner versucht, den Kurs mit Zischlauten zur Ruhe zu bringen. Die Mädchen tuscheln aufgeregt miteinander, einige Jungen pfeifen leise anerkennend durch die Zähne, nur Oleg sitzt zurückgelehnt mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl, die Beine breit von sich gestreckt. Sein Blick verfinstert sich, als er meinem begegnet, ich schaue schnell weg.
Als Corvin mit dem Stimmen fertig ist, spielt er ein paar Akkorde an, dann richtet er sich auf und strafft seinen Körper, seine rechte Hand zittert leicht, er atmet tief durch, ehe er das Wort an uns richtet. Ich fühle so sehr mit ihm, es muss furchtbar sein, zum ersten Mal vor einer Klasse zu stehen, noch dazu vor einer wie unserer, in der einige schon volljährig sind, fast erwachsene Schüler, die jede Schwäche, jeden Fehler registrieren und ausnutzen, anders als Kinder, die so leicht zu begeistern sind und gern für den Lehrer lernen, sofern sie ihn mögen. Also versuche ich, Corvin mit meinen Blicken zu vermitteln, dass ich da bin, dass er keine Angst haben muss. Dass ich zu ihm halte, egal was passiert, auch wenn er seinen Unterricht total vermasselt und Frau Lindner ihn nach der Stunde zusammenfaltet. Ich stelle mir vor, ich könnte ihm Wärme und Zuversicht durch den Raum schicken, tatsächlich sieht er ganz kurz zu mir hin, und ich hebe leicht meine Mundwinkel und zwinkere ein bisschen, damit er versteht. Über sein Gesicht zieht sich nun das breite, entspannte Grinsen, das ich so an ihm liebe; dann begrüßt er uns.
»Ich möchte mit Ihnen einen Song singen, der mir sehr am Herzen liegt und von dem ich glaube, er könnte auch Ihnen gefallen«, beginnt er. »Die meisten von Ihnen kennen ihn wahrscheinlich.« Er zupft ein Intro, das mir schon bei den ersten Klängen bekannt vorkommt, auch wenn ich den Song länger nicht gehört habe; es ist »Wire to wire« von Razorlight.
»Wie geil«, flüstert mir Alena zu. » Das ist Musikunterricht, solche Lehrer sollten wir noch viel mehr haben! Sieh nur, wie Fiona schon wieder sabbert.«
Corvin singt die erste Strophe an, doch ehe er zum Refrain übergeht, dämpft er die Saiten seiner Gitarre ab und lacht in die Runde.
»Natürlich möchte ich viel lieber mit Ihnen zusammen singen«, sagt er, lehnt die Gitarre an die Wand und nimmt einen Stapel Papierbögen aus seinem Rucksack, wandert zwischen unseren Sitzreihen hindurch, um sie auszuteilen, es ist der Songtext. Als Corvin mir mein Blatt reicht, berührt er mit seiner Zeigefingerkuppe meine Hand, verharrt so für die Dauer eines Wimpernschlags, ebenso lange verschränken sich unsere Blicke miteinander. Gleich darauf setzt er sich erneut hin und nimmt die Gitarre auf, etwas zögerlich fangen wir an mitzusingen, im Unterricht ist es ganz anders als zum MP3-Player oder auf Partys, wenn in feucht-fröhlicher Laune jeder Hit mitgeschmettert wird. Aber bereits nach wenigen Zeilen nimmt uns die Musik gefangen, Corvin spielt wie ein Profi und mit jedem Ton, jedem Wort verwandeln wir uns mehr in einen richtigen Chor, es klingt wirklich gut, der Funke seiner eigenen Begeisterung springt zu uns über, bis auf Oleg singen alle mit, und ich weiß nicht, wie es kommt, dass ich plötzlich den Text auswendig kenne, als würde ich ihn jeden Tag singen. Während die anderen vom Blatt mitlesen, sehen wir uns an, Corvin und ich, ein süßer, ziehender Schmerz breitet sich in mir aus, keiner von uns vermag die Augen vom anderen zu lösen, jedes Wort, jede Zeile passt so genau, als wäre sie für uns geschrieben worden.
What is love but the strangest of feelings?
A sin you swallow for the rest of your life?
You’ve been looking for someone to believe in
To love you, until your eyes run dry
She lives by disillusion glow
We go where the wild blood flows
On our bodies we share the same scar
Love me, wherever you are
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