Schwarze Stunde
ob er genauso fühlt wie ich, und wenn nicht … ist es sicher besser so. Irgendwie werde ich damit klarkommen, muss es sogar, wenn ich ihn nicht ganz verlieren will.
Von der Auffahrt des Fahrradhofes biege ich in die verkehrsberuhigte Zone, nur Schritttempo ist erlaubt. Ich schlingere leicht, als ein sportlicher Kleinwagen an mir vorbeibraust, zu schnell und mit stampfenden Beats aus der Stereoanlage; als er mich hinter sich gelassen hat, blickt der Fahrer kopfschüttelnd in den Rückspiegel, um gleich darauf mit aufheulendem Motor weiter zu beschleunigen.
»Wer lässt sich denn da fast über den Haufen fahren?«, fragt eine Stimme neben mir, als der Wagen endlich aus meiner Sichtweite verschwunden ist. Corvins Stimme. Ich wende den Kopf nach links, und da ist er wirklich, langsamer als mein Fahrrad rollt sein alter schwarzer Japaner neben mir her. Corvin hat die Scheibe neben dem Beifahrersitz heruntergekurbelt und beugt sich vor, bedeutet mir mit einem Handzeichen, auf die linke Seite zu wechseln. Ich bremse, und als ich neben ihm stehe, lächelt er sein breites, unbekümmertes Lächeln, das Lächeln aus dem Flugzeug. Er ist da, jetzt ist er wirklich bei mir, endlich! Eilig blicke ich die Straße hinauf und hinunter, es ist niemand zu sehen.
»Hey«, sage ich leise und lege meine Hand auf seine Wagentür, auch hier hat er die Scheibe heruntergelassen. Sofort breitet es sich wieder in mir aus, mein Corvingefühl, das Gefühl, abheben zu können, unbesiegbar zu sein. »Das war ’ne Überraschung letzte Woche, oder?«
»Kann man so sagen«, lacht er. »Das ganze Wochenende habe ich an dich gedacht, und dann sitzt du auf einmal vor mir. Ausgerechnet in der Schule.« Beim letzten Satz wird er wieder ernst. Seine Augen streicheln mein Gesicht.
Ich brauche einen Moment, um seine Worte sacken zu lassen, um fassen zu können, was er eben gesagt hat. Er hat an mich gedacht. Und das spricht er einfach so aus, mitten auf der Straße, als wären wir nicht ein paar Meter von der Schule entfernt, als wären wir nicht Schülerin und Lehrer. Jetzt löst er seine Augen von mir, dreht an den Knöpfen seines Autoradios herum.
»Was hörst du gerade?«, frage ich, er dreht die Musik lauter, dieses Mal ist es eine amerikanische Bluesrock-Band, die ich nicht kenne, aber sie klingt interessant, ich sauge sie in mir auf, will alles teilen, was ihm gefällt.
»Ich war im Unterholz am Samstag, bevor die Schule anfing«, höre ich mich plötzlich sagen. Corvins Augen weiten sich, gleich wird er sagen, dass ich besser nicht mehr dorthin gehen solle, nicht in seinen Stammclub, es sei zu gefährlich, jederzeit könnten wir dort zusammen gesehen werden, auch wenn wir uns nur zufällig begegnen würden, könne man gar nicht so schnell schauen, wie getratscht werde. Aber Corvin nickt nur.
»Dachte ich mir«, sagt er. »Ich wollte auch hin, aber dann musste ich jemandem beim Umzug helfen, ist ziemlich spät geworden.« Er bläst Luft aus seinen Backen. »Und jetzt treffen wir uns hier wieder.«
»Hätte ich auch nie gedacht«, antworte ich. Von hinten kommt ein Auto heran, wieder viel zu schnell für eine verkehrsberuhigte Straße, bremst abrupt hinter Corvin, natürlich hupt der Fahrer, zwängt den ausdauernden, aggressiven Ton zwischen uns beide. Corvin legt den ersten Gang ein.
»Hast du später noch Zeit?«, fragt er. Ich nicke, muss schlucken, meine Kehle fühlt sich wie ausgedörrt an, mein Herz rast.
»Dann sei um achtzehn Uhr vor dem Unterholz . Der Club hat um diese Zeit noch zu, aber ich hole dich dort mit dem Auto ab und wir fahren irgendwohin, wo wir in Ruhe reden können. Kannst du das einrichten?«
Wieder nicke ich, unfähig etwas zu antworten. Eine Verabredung mit Corvin, heute noch! Er hat an mich gedacht, will mich sehen, das ist das Einzige, was wichtig ist. Ich verdränge den Gedanken an das Gespräch mit Alena gestern; man kann die ganze Welt stemmen, wenn man will.
Hinter uns hupt erneut der Fahrer des anderen Autos, die Straße ist zu eng, als dass er vorbeifahren könnte. Ich löse meine Hand von Corvins Wagen und lege sie zurück auf meinen Lenker.
»Super.« Er sieht erleichtert aus. »Bis dann.«
Den ganzen Nachmittag lächle ich vor mich hin. Verbringe die Zeit in meinem Zimmer, schreibe Notizen vom Vormittag ins Reine und beschrifte meine neuen Hefter und Schulbücher, beantworte E-Mails, wasche und föhne mir die Haare und schminke mich dezent, ziehe eine weiße Flatterbluse zu meiner Leinenhose an, die
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