Schwarze Stunde
Dreiviertelstunde sind wir gefahren. Corvin löst seinen Anschnallgurt und nickt mir zu, wir steigen aus.
Ein paar Meter gehen wir schweigend nebeneinander her, keiner von uns scheint zu wissen, wie wir anfangen sollen. Es gibt so vieles zu sagen. Leg deinen Arm um meine Schultern und sei bei mir, beschwöre ich ihn in Gedanken; hier ist doch niemand.
»Vorletzten Samstag hast du echt was verpasst«, beginne ich schließlich. »Die Band war super, besonders der Gitarrist.«
»Ich wünschte, ich wäre da gewesen«, seufzt er. »Und von mir aus hätte auch ein Affe trommeln können. Wir haben uns nicht mal richtig kennengelernt, und jetzt geht das nicht mehr. Jetzt bin ich dein Lehrer und du bist meine Schülerin.«
Der weiche Waldboden unter meinen Füßen scheint sich anzuheben. Ich höre die Sperlinge singen und atme den Duft der würzigen Nadelbäume ringsum, das Baumharz, das von den Stämmen tropft, den trockenen Sand an manchen Stellen. Natürlich geht das; alles geht. Er fühlt genauso wie ich, allein das zählt doch. Alles andere können wir schaffen, was ist schon die blöde Schule gegen wahre Liebe.
Wir kommen an eine Weggabelung; drei verschiedene Möglichkeiten gibt es, unseren Spaziergang fortzusetzen. Die kleinen, hölzernen Schilder deuten zu einem See, einem Gasthaus und dem nächsten Ort. Gesehen werden können wir überall, auch wenn das hier, so weit weg von zu Hause und der Schule, eher unwahrscheinlich ist.
»Welchen Weg nehmen wir?«, fragt er mich.
»Gibt es eine einsame Badestelle?«, frage ich zurück. »Ich möchte nur die Füße ins Wasser halten.«
Corvin nickt. »Um diese Zeit badet kaum noch jemand. Komm«, und jetzt greift er richtig nach meiner Hand und hält sie, als ob er sie nie wieder loslassen möchte. Wir gehen vom Weg ab und schlagen uns durch das Gehölz, manchmal verfängt sich ein am Boden liegender Zweig in meinen Sandalen, aber er lässt mich nicht los, hat seine Finger in meinen verschränkt, hält mich sicher, und als ich einmal fast über eine Wurzel stolpere, fängt er mich auf und schlingt seine Arme um mich, ich lege meine um seine Hüften. Lange stehen wir aneinander geschmiegt da, reglos, wir tun nichts, als einander halten und atmen, reden nicht, küssen uns nicht, halten uns nur fest umschlungen, als könnte im nächsten Augenblick jemand kommen und uns auseinanderreißen. Er fühlt sich so gut an, alles fühlt sich richtig an, wir tun nichts Böses. Ich spüre seine Haare an meiner Wange und meinem Hals, die warme Haut seines Gesichts, seinen Herzschlag, seinen Körper so nah an meinem, schlank, kaum größer als ich, warm, er duftet nach Männerduschgel und nach sich selbst, nach Haaren, so gut, so vertraut und doch neu. Beide atmen wir langsam und tief, als könnten wir einander aufsaugen mit jedem Mal Luft holen, die Welt anhalten, die Zeit stillstehen lassen. Uns nie wieder loslassen.
Corvin drückt mich noch fester an sich, seufzt leise.
»Was machen wir nur daraus?«, fragt er mehr sich selber als mich. »Was machen wir denn jetzt bloß, du und ich?«
Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und schließe die Augen. »Weiß ich auch nicht«, sage ich. »Wir bleiben einfach für immer so stehen.«
Das tun wir auch wirklich noch eine ganze Weile, wieder stumm, wieder den Augenblick genießend. Das hier soll nie vorbeigehen, denke ich; ich will nicht zurück, ich will nicht morgen und an allen anderen Tagen zur Schule gehen und immer aufpassen müssen. Ich will mit Corvin zusammen sein.
Irgendwann lockert er seine Arme ein wenig, streicht mir über den Rücken, nimmt wieder meine Hand, um weiterzugehen, achtet darauf, dass es keine Sekunde gibt, in der wir einander nicht berühren. Wir erreichen das Seeufer, die Schatten der Bäume legen sich bereits lang über das glitzernde Wasser, nur in der Ferne sind ein paar Ruderboote zu erkennen und am gegenüberliegenden Badestrand faltet eine Mutter mit zwei Kindern ihre Wolldecke zusammen, ein paar junge Männer trinken Bier aus Dosen, die stampfenden Technobeats aus ihrem Gettoblaster dringen bis zu uns herüber. Sonst ist außer uns niemand mehr da. Wir setzen uns auf einen umgekippten Baumstamm, ich streife meine Ballerinas von den Füßen und auch Corvin zieht seine Canvasschuhe aus. Gleichzeitig tauchen wir unsere großen Zehen ins Wasser, es ist noch wärmer, als ich gedacht hatte. Er hat schöne Füße, denke ich; nicht so lang und knochig, seine Zehen sind alle fast gleich lang und gut geformt, die
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