Schwarze Stunde
nicht zuletzt auch für ihre eigenen Englischnoten. Allein Manuel beteiligt sich überhaupt nicht am Unterricht. Er blinzelt Corvin jedoch immer wieder an, manchmal lacht er bitter auf, hustet oder räuspert sich geräuschvoll, gerade noch so leise, dass es kaum als Unterrichtsstörung ausgelegt werden kann. Wenn ich nicht so genau wüsste, weshalb er unbedingt in den Englisch-Leistungskurs wollte, und wenn es nicht eine verdammte Lehrprobe wäre, von der für Corvin einiges abhängt, würde ich bestimmt eingreifen. So gerne würde ich Corvin beistehen. Aber es geht nicht. Immerhin scheint er sich wieder gesammelt zu haben, er richtet seinen Blick auf uns, strafft seinen Körper, tritt dicht vor Manuels Tisch.
»Konzentrieren Sie sich bitte, Manuel«, sagt er in ruhigem, aber bestimmtem Ton. »Es ist wichtig, dass Sie mir die Möglichkeit geben, auch Sie optimal auf die bevorstehende Klausur vorzubereiten.«
»Optimal«, schnaubt Manuel. »Sie sind wirklich ein großartiger Lehrer. Was Sie gewissen Leuten hier so alles beibringen können.«
»Manuel, bitte«, mahnt Frau Bollmann leise von hinten. »Bei der nächsten Störung fliegen Sie raus.«
Aber auch diese Drohung beeindruckt ihn nicht, er steht auf und hält sich mit beiden Händen an seinem Tisch fest, dennoch schwankt er.
»Ist doch wahr«, lallt er und dreht seinen Oberkörper zu den Besuchern um. »Sie sehen doch auch, was hier los ist, Herr Oberschulrat oder wer Sie alle sind. Oder? Wie sie ihn alle anschmachten, statt ordentlich aufzupassen, die Mädchen und Jungs. Herr Schwarze betört sie alle! Aber mich nicht, ich bin ja nicht schwul. Meine Freundin hat er mir abspenstig gemacht, das hat er gemacht, hören Sie? Die will nichts mehr von mir wissen, seit der tolle Herr Schwarze da ist. Alle sind sie in ihn verschossen, alle. Sogar meine Freundin hat er mir weggenommen. Das lasse ich mir nicht gefallen.«
Durch die Besucherreihe geht ein Raunen; auch ohne nach hinten zu schauen, sehe ich die wichtigen Herrschaften ihre Stirn runzeln und ihre Köpfe schütteln.
»Manuel, es reicht«, sagt Frau Bollmann knapp und steht auf, mit wenigen Schritten ist sie neben ihm. »Kommen Sie bitte mit nach draußen.« Ihre Körperhaltung verrät, dass sie keinen Widerspruch und keine weitere Unterbrechung der Stunde duldet, und tatsächlich rappelt sich Manuel aus seinem Stuhl hoch und folgt ihr, wendet sich jedoch an der Tür noch einmal um.
»Sie nehmen mir nicht mein Mädchen weg«, sagt er noch einmal. »Sie nicht, Herr Schwarze.« Dann schließt sich die Tür hinter Frau Bollmann und ihm, noch von draußen höre ich ihn randalieren und fluchen, dazwischen immer wieder die Stimme unserer Lehrerin, die ihn zu bändigen sucht.
Im Kurs ist es jetzt so still, dass man jeden Atemzug, jedes noch so leise Papier knistern hören kann. Ich glaube, jeder erwartet, dass Corvin die Stunde abbricht, weil er nicht mehr kann, in die Enge getrieben durch Manuels Auftritt, den Besuchern eine Erklärung schuldig. Aber Corvin hat sich im Griff, auch hier spüre ich, wie ähnlich wir uns sind, er kämpft weiter, gibt sich keine Blöße, will sich nichts anmerken lassen, nicht zusammenbrechen, gerade jetzt nicht.
Und irgendwie geht es weiter, alle reißen sich zusammen, auch ich, obwohl ich die ganze Zeit daran denken muss, wie die Gäste ihn nach der Stunde ins Kreuzverhör nehmen werden. Ausfragen, zerquetschen, foltern werden sie ihn, wie meine Mitschüler es zur selben Zeit mit mir machen werden. Ich versuche, mich auf den Stoff zu konzentrieren, nur noch dieses eine Mal so zu tun, als ob nichts sei, weiterzumachen, die Stunde hinter uns zu bringen, irgendwie noch etwas Positives für Corvin aus diesem Schlamassel herauszuholen. Ich lese und schreibe, frage und antworte, obwohl es in meinen Ohren rauscht, in meinem Kopf dröhnt und alles vor meinen Augen wabert wie hinter einem Schleier. Gegen Ende der Stunde sollen wir eine schriftliche Aufgabe vorbereiten. Währenddessen streift Corvin durch die Reihen, gibt Tipps, weist auf Fehler hin, versucht sogar ein paar kleinere Scherze mit meinen Mitschülern, die ebenfalls so tun, als wäre nichts, als würde mich nicht jeder Einzelne beobachten, mich und ihn, argwöhnisch, misstrauisch, als gäbe es keine geheime Falle, von der alle nur darauf warten, dass ich hineintrete und gefangen bin, ausgeliefert, schutzlos. Die Luft im Kursraum fühlt sich an, als müsse man nur ein Streichholz anzünden, um sie zum Explodieren zu bringen,
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