Schwarze Stunde
einmal Corvin schreibt mir, wahrscheinlich hat er längst wieder Unterricht, und sicher will er nicht beobachtet werden, wenn er eine Nachricht an mich schreibt. Er kann sein Handy irgendwo liegen lassen, irgendjemand kann ihm beim Schreiben unbemerkt über die Schulter schauen oder es ihm heimlich wegnehmen, es darf nichts Verdächtiges drauf sein. Um mich abzulenken, suche ich mir aus dem Ständer an der Wand eine Zeitung aus, versuche mich auf die Schlagzeilen zu konzentrieren, die schräg stehende Sonne wirft ihre Strahlen durchs Fenster auf das Papier, ein herbstlicher Wind lässt die Schatten der Blätter auf der Tischplatte tanzen. Ich wünschte, ich könnte ewig hier sitzen bleiben und müsste nicht zurück zur Schule.
Gerade habe ich es geschafft, mich in einen Artikel über den Karriereverlauf der jungen Britpop-Band Kangaroo Juice zu vertiefen, da wird die Tür des Cafés von außen geöffnet, und ein Schrecken jagt durch meinen Körper. Frau Bollmann tritt ein und hinter ihr Corvin. Sicher sind sie mit dem Auto gekommen. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass Frau Bollmann auf meinem Platz in Corvins Japaner gesessen haben könnte. Suchend blicken sie sich um und steuern einen freien Tisch an der anderen Fensterseite an; beim Hinsetzen bemerkt mich Frau Bollmann.
»Valerie«, ruft sie überrascht aus, ihre Augen flackern unter der gerunzelten Stirn, ganz leicht schüttelt sie den Kopf, während sie an meinen Tisch tritt. »Haben Sie keinen Unterricht?«
Ich erkläre kurz, warum ich frei habe, es wundert mich, dass sie nichts davon zu wissen scheint, schließlich hat sie erst gestern noch selbst vom hohen Krankenstand unter den Lehrern gesprochen und davon, dass nicht alle Stunden vertreten werden können. Zum Glück begegne ich Corvins warmem Blick; mach dir nichts draus, sagen seine Augen, ich freue mich, dich zu sehen. Ich lächle beiden zu, ihm ein wenig länger als ihr. Er sieht müde aus, jegliche Frische ist aus seiner Haut gewichen, doch er wirkt gefasst. Ich sehne mich so sehr danach, ihn in den Arm zu nehmen.
»Tja, wir wollen Sie natürlich nicht stören«, fügt Frau Bollmann hinzu, noch immer mit angespannter Stimme, ich höre genau, dass sie eigentlich meint, sie hoffe, dass ich Corvin und sie nicht störe und dass sie sich insgeheim ärgert, mich hier überhaupt anzutreffen. »Herr Schwarze und ich müssen ein bisschen arbeiten, es gibt viel zu besprechen, allein damit sich so etwas wie die Sache mit Manuel nicht wiederholt. Unsere Freistunden sind leider nur selten als solche zu bezeichnen.« Dabei beugt sie sich vor und wirft über meine Schulter hinweg einen zerstreuten Blick auf meine Zeitung.
Auch Corvin hat sich mittlerweile neben sie gestellt. »Kangaroo Juice – fresh and delicious in every single term«, liest er die Überschrift des Artikels vor. »Wie viel lieber würde ich mich jetzt auch mit Musik beschäftigen als mit Unterrichtsvor- und -nachbereitung. Lassen Sie sich wirklich nicht stören, genießen Sie Ihre freie Zeit, Valerie.«
Er zwinkert mir zu, dann dreht er sich um und nimmt gegenüber von Frau Bollmann Platz, beide sitzen seitlich zu mir. Ab und zu nimmt Corvin Blickkontakt zu mir auf, sanft und traurig sieht er aus, doch Frau Bollmann hat Schreibzeug und Papiere vor ihm ausgebreitet und beginnt das Arbeitsgespräch zu führen. Ich beuge mich wieder über meinen Artikel, mir ist unbehaglich zumute, doch nach einiger Zeit scheinen die beiden keine Notiz mehr von mir zu nehmen. Sie reden leise, ich versuche wegzuhören, ich möchte bald gehen; Frau Bollmanns Art, mir jetzt halb ihren Rücken zuzudrehen, bedeutet mir, dass ich hier nichts mehr verloren habe, sie ist mit Corvin hier, nicht ich. Sie spricht, blättert, tippt mit dem Zeigefinger auf Geschriebenes, erklärt, fragt; mitunter legt sie ihre Hand auf Corvins Arm, sekundenlang nur, im Profil nehme ich zum ersten Mal ihre langen Wimpern wahr, die schmale, gerade Nase, ihre weißen Zähne. Auf einen der Schneidezähne hat sie sich einen winzigen Schmuckstein aufkleben lassen, der ihr hervorragend steht; mit diesem Lächeln hat sie auch uns Schüler sofort für sich gewonnen. Es wäre kein Wunder, wenn Corvin sich in sie verliebt, spätestens auf der Kursfahrt. Ich könnte es nicht verhindern und es wäre alles so viel leichter für ihn.
Als ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, stehe ich auf und schiebe meinen Stuhl geräuschvoll an den Tisch. Frau Bollmann redet und redet, Corvin nickt, ihre Augen
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