Schwarze Stunde
und ich fühle mich wie aus Glas, als könne jeder in mich hinein- und durch mich hindurchsehen, ich kann nichts verbergen, so sehr ich mich auch anstrenge, normal zu wirken. Für den Rest der Stunde herrscht eine Stille, die mir fast den Verstand raubt, ich kann nicht mehr klar denken. Meine rechte Hand zittert, ich muss trocken schlucken, meine Zunge fährt wie ein starr getrockneter Waschlappen über meine Lippen. Corvin und ich haben nichts Schlimmes getan, versuche ich mir immer wieder einzureden. Niemand kann uns wirklich nachweisen, wir hätten ein intimes Verhältnis miteinander. Wir haben es ja auch nicht.
Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Ich erwache wie aus einem lähmenden Albtraum, als Corvin endlich verkündet, die Stunde sei gleich um.
»Schauen Sie sich für die Klausur bitte auch den Stoff des gesamten bisherigen Halbjahrs an«, sagt er ins Pausenklingeln hinein. »Auch davon kann einiges abgefragt werden, das wäre absolut üblich.«
Fiona hebt ihren Finger.
»Ich kann alles, was Manuel versäumt hat, für ihn mitnehmen«, schlägt sie in lupenreinem Englisch vor, ohne dass Corvin sie aufgerufen hätte. »Wenn er will, übe ich auch mit ihm. Ich glaube, es wurmt ihn einfach, dass er mit Englisch noch Schwierigkeiten hat. Er hat seine Sprüche bestimmt nicht so gemeint.«
Corvin nickt. »Gute Idee, Fiona, vielen Dank«, bestätigt er, ganz deutlich sehe ich, welch eine Last durch ihre Worte von ihm abfällt, endlich lächelt er wieder und sein Brustkorb weitet sich. Fiona strahlt ihn an, nimmt eine Banane aus ihrer Tasche und wandert an ihm vorbei in Richtung Pausenhof, streift in der schmalen Ecke zwischen Wand und Lehrerpult beinahe seinen Körper mit ihrer Brust, wirklich nur beinahe, sie berührt ihn nicht, schenkt ihm aber ihr schönstes Lächeln, mit dem sie gleich darauf auch die hintere Sitzreihe blendet, noch sind die Besucher nicht aufgestanden, noch beobachten sie, machen sich Notizen, die Gesichter verschlossen. An der Tür wirft mir Fiona einen Blick zu, sie hält ihren Hefter hoch, sodass die Klarsichtseite zu mir zeigt, aber niemand anders sie sehen kann. Neongrüne Buchstaben auf weißem Linienpapier, sorgfältig mit schwarzem Filzstift umrandet. Das war noch nicht alles , lese ich.
Fiona grinst noch, als sie endlich durch die Tür verschwindet.
15.
D u hast jetzt Chemie, nicht wahr?«, frage ich Alena mittags japsend, während ich alles in meine Tasche stecke, aufstehe und meinen Stuhl an den Tisch schiebe. Corvins vermasselte Lehrprobe ist jetzt zwei Stunden her, vielleicht sind sie fertig mit dem Nachgespräch, ich mache mir Sorgen um ihn, würde ihn so gern sehen. Alena nickt.
»Ich hab zwei Freistunden«, füge ich hinzu, »Geschichte fällt aus. Ich muss hier raus. Bis nachher.« Ich drehe mich um, hole mein Fahrrad aus dem Hof und rase los.
Als ich das Schulgelände weit genug hinter mir gelassen habe und sicher bin, dass mir niemand gefolgt ist, drossle ich meine Geschwindigkeit und fahre weiter, zuerst ziellos, dann jedoch strebe ich ein verschwiegenes kleines Café an, das außer mir kaum jemand kennt, weil es zu weit weg von der Schule liegt, als dass man bequem auch in einer einzelnen Freistunde hin und zurück käme. Für zwei Stunden reicht es aber. Noch immer wie gejagt stoße ich die Tür auf und stelle erleichtert fest, dass es fast leer ist, nur ein langhaariger junger Mann bekommt gerade sein Frühstück serviert und tippt in seinen Laptop. Sonst sitzt niemand an den dunkelbraunen Tischen aus massivem Holz, denen man ihre Jahre ansieht und die gerade dadurch das Café so gemütlich machen, ebenso wie die mit weinrotem Samt bezogenen passenden Stühle, die Filmplakate an den Wänden und die Musik aus den etwas krächzigen Lautsprechern. Gerade läuft Amy Winehouse’s Back To Black , ihre klagende Stimme passt genau zu meiner Verfassung. Ich muss nicht mehr hetzen, beschwöre ich mich selbst, während ich mich an einen Zweiertisch am Fenster setze; kann runterkommen, einen Chai Latte oder einen Milchkaffee bestellen, werde später vielleicht gar nicht mehr zur Schule zurückfahren. Wegen einer unentschuldigten Fehlstunde fliege ich nicht gleich, ich kann einfach nicht mehr. Eine Serviererin in meinem Alter fragt mich nach meinem Wunsch, zu meinem Milchkaffee liegt ein Keks auf der Untertasse, der süße Geschmack in meinem Mund beruhigt mich etwas, es ist gut, allein zu sein, obwohl ich auch jetzt dauernd zur Tür starre. Mein Handy bleibt stumm, nicht
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