Schwarze Stunde
Oleg baut sich vor der Tür auf, breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen. Fiona tritt aus der Reihe einen Schritt vor.
»Für die Aufgaben ist es zu spät«, stellt sie fest. »Dann wollen wir jetzt die Lösungen haben, Valerie. Was hast du gemacht? Spickzettel für jeden von uns?«
»Nichts habe ich gemacht. Ich kenne weder Aufgaben noch Lösungen, das habe ich euch doch gesagt.«
Fiona lächelt. »Das mag sogar sein. Aber du hast mich nicht verstanden, Valerie. Es geht nicht darum, ob du die Lösungen schon kennst. Du solltest sie uns beschaffen. Uns von deinem Vitamin B etwas abgeben.«
»Ich habe kein Vitamin B.«
»Ach nein? Und was ist das hier?«, fragt sie und hält mir plötzlich ein Foto unter die Nase, wieder eines von Corvin und mir, etwas unscharf, aber doch zu erkennen, wir sitzen im Restaurant »Landhaus am Fluss« und halten uns über den Tisch an den Händen. Die SMS nach jenem Abend taucht vor mir auf; Ich liebe ihn mehr als du. Wahrscheinlich ist es längst durch die endlosen Weiten des Internet in alle Welt verbreitet worden, und wer weiß, ob es nicht noch mehr Fotos gibt, Hunderte Bilder, auf denen man sehen kann, wie Corvin und ich zueinander stehen. Trotzdem. Ich darf nichts zugeben, muss standhaft bleiben, denn sonst ist Corvin dran, und das wissen sie genau. Ich bin es, der sie nachstellen, nicht er. Sie wollen ihn für sich haben und ich störe dabei.
»Billige Fotomontage.« Ich winke ab. »So was kann jeder Sechsjährige am PC fabrizieren.«
»Du weißt, wie echt das Foto ist, und jetzt beeil dich«, drängt Fiona. »Frau Bollmann kann jeden Moment reinkommen, vorher brauchen wir die Lösungen. Raus damit.«
»Wie oft denn noch: Ich habe nichts. Nicht einmal für mich selber. Und zwischen Schwarze und mir ist nichts.«
»Wir glauben dir kein Wort. Man muss nur das Bild ansehen.«
Yvonne, Kosta und Büsra beugen sich über das Foto. »Eindeutig«, bemerkt Kosta.
»Hört auf«, mischt sich Alena ein und versucht sich zwischen Fiona und mich zu drängen, will mich umarmen. »Ihr könnt überhaupt nichts beweisen. Lasst Valerie endlich in Ruhe.«
Fiona hält stumm das andere Foto in die Höhe, das von Corvin und mir an seinem Auto.
»Dieses Bild ist völlig unbedeutend«, beteuere ich. »Das war irgendwann kurz nach den Sommerferien; Herr Schwarze fuhr vom Hof und ich kurz dahinter, wir mussten den Gegenverkehr durchlassen und haben dabei ein paar Worte gewechselt. Jeder von euch könnte auf dem Bild sein. Es beweist gar nichts.«
»Meinst du. Da habe ich aber andere Informationen.«
»Diskutiert jetzt nicht rum«, mahnt Yuki. »So viel Zeit haben wir nicht. Du hast also nichts für uns, Valerie?«
»Hab ich doch schon gesagt.«
»Gut. Nach dem Ablauf des Ultimatums haben wir auch nichts anderes mehr erwartet.« Sie packt mich von hinten an einem Arm, Fiona am anderen, zusammen schieben sie mich durch den Spalier auf das Fenster zu, das zu einem kleinen separaten Hof zeigt; hier stehen die Mülltonnen der Schule, während der Unterrichtszeiten wird er nur betreten, wenn die Lehrer jemanden hinschicken, um den Abfallkorb zu leeren.
»Ich zeige dir jetzt, was mit dir passieren wird, wenn du nicht endlich deine Finger von Schwarze lässt«, zischt Fiona. Mit einer Kopfbewegung bedeutet sie Manuel, das Fenster zu öffnen.
»Beeil dich«, raunt sie. Die Scharniere quietschen, das Fenster öffnet sich mit einem Ruck. Eine Hand packt mich im Nacken und drückt mich gegen die Brüstung, sie ist hier nicht hoch, schon hängt mein Kopf nach draußen, das Fensterbrett drückt gegen meinen Brustkorb, ich ringe nach Luft.
»Siehst du, was mit dir passieren wird?«, fragt Fiona. »Du musst nur nach unten schauen. Das bist du, was du dort siehst.«
Ich starre auf den geteerten Boden vier Stockwerke unter mir, fühle mich schwindlig, ein heftiger Stoß nur, eine unbedachte Bewegung und ich könnte fallen, hinunterstürzen. Jemand hat mit Kreide die Umrisse eines liegenden Mädchenkörpers auf die Steinplatten gezeichnet, Arme und Beine abgespreizt, verdreht, wie es die Polizei immer nach Verkehrsunfällen macht, um den Unfallhergang nachvollziehen zu können. In Höhe der Brust stehen meine Initialen geschrieben: V.G.
»Erkennst du dich wieder?« Fionas Gesicht ist jetzt so nah hinter meinem, dass ich ihren Zahnpastageruch wahrnehme. »Das bist du, dort unten. So wirst du am Boden liegen, Lehrerliebchen.« Sie stößt mich noch weiter nach vorn, jemand hebt von hinten
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