Schwarze Stunde
fühle ich tiefes Mitleid mit ihr, noch habe ich auf ihr Liebesgeständnis keine Antwort gegeben, vielleicht hat sie sich Hoffnungen gemacht, und jetzt steht sie hier mit meinem Telefon in der Hand und liest, dass ich eine ganz tiefe Beziehung zu Corvin habe, obwohl ich dies immer abgestritten habe. Ich muss es auch weiterhin abstreiten, auf keinen Fall darf ich jetzt einknicken.
»C. steht für Christopher«, versuche ich mich herauszureden. »Meinen Cousin, den kennst du doch. Er schreibt eigene Stücke am Klavier, das ist damit gemeint.«
»Natürlich«, erwidert Alena mit ironischem Unterton. »Und wie steht es hiermit: Was für ein schöner Abend … ich schlafe mit einem Lächeln ein. Dein C. Hat das auch dein Cousin geschrieben?«
»Das war, nachdem Corvin und ich uns im Flieger kennengelernt hatten.«
»Du bist aber mittags angekommen, nicht abends«, erinnert sie mich. »Und was für ein Zufall auch, dass er genau wie Christopher mit Dein C. unterschreibt und dieselbe Handynummer hat. Und beide schreiben Songs … Stell sie einander doch mal vor, vielleicht mögen sie sich!«
»Das wird mir zu blöd.« Ich reiße ihr das Telefon aus der Hand. »Ich muss los, und du gehst jetzt am besten nach Hause.«
Seltsamerweise widerspricht sie nicht. Natürlich nicht, sie weiß auch so, dass sie mich jetzt in der Hand hat, mehr als je zuvor.
Wir klettern vom Klettergerüst herunter und schlagen die Richtung zurück zu mir nach Hause ein, ich hoffe, sie will nicht bei mir übernachten. Allein die Vorstellung lässt mich erschauern.
Unsicher versuche ich, sie zu versöhnen, zu beruhigen, die richtigen Worte zu finden. Ich darf sie nicht kränken. Vielleicht ist sie doch auf meiner Seite, vielleicht würde sie mir als Einzige beistehen, wenn es noch härter kommt als bisher.
»Versteh mich nicht falsch, Alena«, beginne ich, als wir an der Ampel stehen. Ein Lastwagen braust an uns vorbei, wir können gerade noch rechtzeitig zurückspringen, um nicht vom Schmutzwasser aus den Pfützen am Straßenrand durchnässt zu werden. »Ich habe dich auch lieb, wie man die beste Freundin eben lieb hat. Aber ich bin nicht lesbisch, wirklich nicht. Ich stehe nur auf Männer. Zwischen uns kann nichts laufen.«
»Schon klar«, sagt sie, den Blick geradeaus gerichtet.
»Sei mir nicht böse«, bitte ich sie. Sie schüttelt den Kopf, und was auch immer eben noch in sie gefahren schien, ist vorbei, sie fasst mich nicht mehr an, bedrängt mich nicht mehr, redet nicht mehr von Liebe. Vor meiner Haustür sehe ich sie abwartend an, ich habe Angst, allein nach oben zu gehen, auch wenn meine Eltern jetzt sicher beide zu Hause sind. Andererseits will ich nicht noch einmal Alenas Annäherungsversuchen ausgesetzt sein, ihren enttäuschten Gefühlen, ihrem Trotz.
Sie verabschiedet sich.
»Alena?«, rufe ich, als sie schon fast zurück auf dem Bürgersteig ist. Will ihr noch irgendetwas sagen, ein paar tröstliche, aufmunternde Worte, obwohl mir selbst die Kehle eng vor Angst ist. Will nicht so mit ihr auseinandergehen, es fühlt sich an wie nach einem Streit, schief, blutend. Sie bleibt stehen und dreht sich um.
»Du hältst doch trotzdem zu mir?«, frage ich sie. »Auch wenn ich dir nicht das geben kann, was du dir am meisten wünschst?«
Alena schweigt.
»Wir bleiben doch trotzdem beste Freundinnen, nicht wahr?«, versuche ich es noch einmal. »Es muss sich nichts zwischen uns ändern, nur weil du mir das jetzt gesagt und diese SMS gelesen hast. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du mir unheimlich wichtig bist. Ich werde immer für dich da sein, egal was passiert.«
Alena sieht mir fest in die Augen, antwortet nicht. Sagt nicht, dass sie auch für mich immer da sein wird, egal, was passiert.
»Geh lieber hoch«, rät sie mir schließlich. »Fiona wartet auf die Englischaufgaben.«
Dann geht sie. Ich will ihr noch etwas hinterherrufen, besinne mich aber anders, es hat keinen Zweck mehr, ich würde alles nur noch weiter zerstören. Ich schließe die Haustür auf und taste erneut nach meinem Handy in der Jackentasche, es ist da, sie hat es mir nicht heimlich weggenommen. Stufe für Stufe steige ich die Treppen hoch und überlege, was ich tun kann, aber es gibt nichts. Ich kann nicht einmal mehr für die Klausur üben; das Beste wird ohnehin sein, ich schreibe bewusst eine schlechte Arbeit. Nur dann werden mir vielleicht einige glauben, dass ich die Aufgaben und Lösungen tatsächlich nicht vorher beschaffen konnte. Groß ist diese
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