Schwarze Stunde
Spinner vermutlich; Alena hat gesagt, so was kommt bei ihr auch oft vor. Wird schon wieder aufhören.«
Es hört aber nicht auf, nicht von allein, und bei jedem neuen Klingeln, jeder anonymen Nachricht auf unserem Anrufbeantworter, die manchmal nur aus einem Stöhnen, einer geflüsterten Drohung oder gekeiften Schimpfwörtern besteht, sieht mich meine Mutter an, fragend, prüfend, nicht einmal zu Hause bin ich sicher, nicht einmal mehr vor ihr. Was ist da los, Valerie, fragen mich ihre Augen, wer verfolgt dich so entschlossen, was verheimlichst du uns? Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie meinen Ausflüchten nicht mehr glaubt und mich zur Rede stellen wird. Jeden Augenblick kann sie das tun, oder eben mein Vater. Jedes Mal, wenn einer von ihnen das Wort an mich richtet, zucke ich zusammen.
Obwohl ich heute, nach drei fast schlaflosen Nächten, vor Müdigkeit weinen könnte, horche ich angespannt auf jedes Geräusch, das von draußen in mein Zimmer dringt. Ich erschrecke bei jedem vorüberfahrenden Auto, dessen Scheinwerfer über meine Wände gleiten, fahre bei jeder Windböe zusammen, die die Äste der Platane vor unserem Haus knarzen und rauschen lässt. Dazu die zahllosen SMS und anonymen Anrufe auf meinem Handy, die seit der Klausur bei mir eingegangen sind.
Ich halte das nicht länger aus. Immer tiefer scheine ich in diesen Strudel zu geraten, der mich weiter und weiter abwärts reißt und aus dem ich nicht mehr herauskomme, sosehr ich auch kämpfe, nach Luft ringe, versuche, nach oben zu kommen. Von allen Seiten umringen sie mich und richten ihre gespannten Bögen auf mich, bereit, mich mit ihren Pfeilen aufzuspießen und mit ihrem Gift zu spicken, mich zu foltern, zu vierteilen und zu verbrennen wie eine mittelalterliche Hexe. Meine Mitschüler, Alena, Manuel, jetzt auch noch Frau Bollmann. Sie werden nicht eher aufhören, als bis sie ihren Triumph davongetragen, Corvin und mich auseinandergerissen haben, um sich an meinem Schmerz zu weiden. Ich bin am Ende mit meinen Kräften, so kann es nicht weitergehen. Ich wälze mich hin und her, grüble, lausche, falle immer wieder in einen leichten, unruhigen Schlaf, bis ich im Morgengrauen einen Entschluss fasse.
Es geht nicht mehr. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Ich muss diejenige sein, die das alles beendet; es muss stimmen, wenn ich behaupte, zwischen Corvin und mir wäre nichts. Ich muss ihn anrufen, mit ihm reden; auch wenn es mich innerlich zerreißt, muss ich versuchen, mich ganz von ihm zu lösen. Ich liebe ihn, aber inzwischen fühle ich mich wie ein zu Tode gehetztes Kaninchen, das mit räudigem Fell und erschöpftem Überlebenswillen am Boden liegt, den Hunden ausgeliefert, bereit zu sterben, wenn es nur nicht mehr fliehen muss, weil sein gejagtes Herz nicht mehr noch schneller schlagen, die Lunge nicht noch mehr nach Luft ringen kann, die Beine nicht einen weiteren Schritt mehr hergeben, keinen Haken mehr schlagen können. Hier habt ihr mich, es soll nur vorbei sein, schnell und für immer. Ich kann nicht mehr.
Ich warte den nächsten Nachmittag ab, an dem Alena zur Fahrschule geht, dann schicke ich Corvin eine SMS , in der ich ihn nach einem Treffen frage. Umgehend schreibt er zurück; Ich halte es kaum noch aus ohne dich. Fahr mit der S-Bahn nach Rüdersdorf, ich warte am Bahnhof auf Dich. Freue mich, Dein C.
Freue mich. Corvins Worte brechen mir das Herz, gleichzeitig fühle ich eine leichte Bitterkeit in mir aufsteigen. Sicher ist unsere Beziehung auch für ihn gefährlich; im Ernstfall steht für ihn mehr auf dem Spiel als für mich. Aber ihm stellt niemand nach, die Täterin bin in den Augen der anderen allein ich, während sie ihn weiter anhimmeln. Im Zug versuche ich mich weiter in Rage zu denken, Zorn auf Corvin zu entwickeln, doch es gelingt mir immer weniger, je näher ich dem Zielbahnhof komme. Gleich werde ich ihn sehen, gleich. Dieses eine letzte Treffen genießen, es noch einmal richtig auskosten, als gäbe es kein Morgen. Aber dann muss ich es ihm sagen. Ihm sagen, dass es mit uns nicht weitergehen kann. Dass ich durchdrehe, wenn ich weiter so verfolgt werde wie schon seit Wochen und Monaten und besonders in den letzten Tagen.
Die S-Bahn fährt durch einen Tunnel. Die ganze Zeit habe ich beim Nachdenken nach draußen gesehen, habe die Regentropfen beobachtet, die in Rinnsalen die Fensterscheiben hinunterliefen. Jetzt, im Dunkel des Tunnels, spiegelt sich mein Gesicht im Glas, ich habe lange nicht mehr richtig in einen
Weitere Kostenlose Bücher