Schwarze Stunde
meine Beine hoch und schiebt, mein Schwerpunkt verlagert sich fast bis über die Brüstung, wenn sie mich jetzt loslassen, stürze ich, schon sehe ich meinen Körper in die Tiefe fallen, höre meinen Schrei, den letzten Laut meiner Stimme, den Aufprall.
»Bitte nicht«, flehe ich, Panik in meiner Stimme, mein Puls hämmert durch meine Adern. »Hört auf, bitte.«
Derjenige, der meine Beine hält, lässt diese kurz los, ich rutsche nach vorn, hänge fast im Freien, drohe zu fallen, diese Silhouette unter mir, ich will nicht sterben.
»Valerie!«, schreit Alena, ihre Stimme überschlägt sich, hinter mir fällt ein Stuhl zu Boden und ein Tisch wird gegen die Wand geschoben, Alena erreicht mich nicht, es sind immer noch dieselben Hände, die mich halten und loslassen, halten und loslassen, bis mir fast schwarz vor den Augen wird.
»Bitte«, flehe ich erneut, in diesem Moment ist es mir egal, dass sie mich so sehen, wie sie mich haben wollten, klein und schwach, ausgeliefert, erniedrigt. Sie sollen nur aufhören, sollen mich am Leben lassen, das können sie nicht wollen, mich hier aus dem Fenster zu stürzen, vor den Augen so vieler anderer, die ganze Schule wäre in Aufruhr, Polizei, Presse, meine Eltern …
Der Lebensfilm beginnt, ich sehe mich selbst als kleines Kind auf dem Arm meiner Mutter; mit Papa auf dem Spielplatz, sehe ein anderes kleines Mädchen, das Zuckersand durch seine Finger rieseln lässt, vielleicht Alena, sehe meine Einschulung, die Sommerferien auf dem Reiterhof mit zehn, sehe mein altes Kinderzimmer und die Renovierung vor ein paar Monaten, erkenne Manuel und mich, Arm in Arm … »Ich will nicht sterben!«, höre mich schreien, schreien, schreien, tief unter mir die Kreideumrisse, irgendjemand packt mich um die Hüften und zieht mich zurück in den Raum, mühevoll, nicht sehr kräftig, aber mit entschlossenem Griff. Alena.
»Seid ihr wahnsinnig?«, zischt sie, »Frau Bollmann kommt jeden Moment; wollt ihr, dass sie das mitbekommt?«
Sie legt ihren Arm um meine Schulter, die anderen huschen auf ihre Plätze. Dann ist Frau Bollmann auch schon im Raum, stutzt und blickt sich unruhig um, ihre schmalen Nasenflügel beben, kaum merklich schüttelt sie den Kopf. Dann geht ein Ruck durch ihren Körper, sie holt tief Luft und blickt in die Runde.
»Was war hier eben für ein Lärm?«, will sie wissen. »Hat es Streit gegeben?«
Schweigen. Mein Herz hämmert, ich versuche, das Zittern in mir zu unterdrücken, es gelingt mir nicht. Alena hält mich noch immer.
»Keine Antwort – gut, dann eben nicht«, meint Frau Bollmann, nachdem sie vor allem uns beide eingehend gemustert hat. »Manuel, schließen Sie bitte das Fenster«, ordnet sie an. »Alena und Valerie, Sie setzen sich bitte auch hin, jede an einen Einzeltisch, wir sollten keine Zeit verlieren. In den ersten beiden Stunden werde ich Sie beaufsichtigen, danach kommt Herr Schwarze. Carla, teilen Sie bitte aus.« Frau Bollmann reicht ihr einen Stapel Papierbögen, Carla verteilt sie und sofort senken sich die Köpfe darüber, als müssten alle um ihr Leben lesen. Als hätten sie nicht gerade eben noch jemandem aus ihrer Mitte mit Mord gedroht. Frau Bollmanns rechte Hand zittert, als sie das Datum an die Tafel schreiben will und bemerkt, dass dies bereits erledigt wurde, die Kreide fällt ihr aus der Hand; nachdem sie sich gebückt hat um sie aufzuheben, ist sie rot im Gesicht, sie fängt sich jedoch gleich wieder. Ich frage mich, wie viel sie mitbekommen hat von dem, was hier eben passiert ist.
»Sie kennen die Vorschriften für die Blattgestaltung?«, fragt sie, noch immer verunsichert in die Runde blickend. »Ein Drittel als Korrekturrand frei lassen und die Bögen nur einseitig beschreiben. Lesen Sie sich jetzt bitte die Arbeitsaufträge gründlich durch; wer Fragen hat, meldet sich bitte gleich. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«
Wie ferngesteuert sinke ich auf einen Stuhl in der letzten Reihe, blicke nicht auf, als Carla an mir vorbeikommt. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, ich verstehe den Text nicht, um den es geht, muss jede Frage viermal lesen, ehe ich begreife, was von mir verlangt wird. Frau Bollmann bleibt noch einige Minuten vorne stehen, doch als sich niemand meldet, setzt sie sich an den Lehrertisch und nimmt einen Stapel Hefte zum Korrigieren aus ihrer Tasche. Es wird still im Raum, einer nach dem anderen beginnt zu schreiben, niemand hat sich gemeldet, um Fragen zu stellen. Auch ich beuge mich erneut über mein
Weitere Kostenlose Bücher