Schwarze Stunde
Chance nicht.
Ich begrüße kurz meine Eltern, bleibe ein paar Minuten auf der Couch sitzen und tue so, als würde ich die Nachrichten des Lokalsenders mitverfolgen. Den Rest des Abends starre ich in meinem Zimmer vom Bett aus die Decke an. Eine Stunde nach der vereinbarten Zeit vibriert mein Telefon, zu Hause und in der Schule stelle ich immer alle Signaltöne aus. Auf dem Display steht Fionas Name.
Du hast es nicht anders gewollt , lese ich. Sei gewappnet für den Tag des Gerichts.
17.
A m Morgen vor der Klausur kann ich nichts essen; sonst frühstücken wir immer ausgiebig, bevor mein Vater zur Arbeit fährt, aber heute ist mir der Magen wie zugeschnürt. Den ganzen gestrigen Tag lang wurde ich von den anderen geschnitten, selbst Alena antwortete mir nur knapp, wenn ich sie etwas fragte. Ich könnte mich krankmelden, bei der Klausur heute fehlen, aber das wäre nur ein Aufschub. Ich müsste nachschreiben, und schon jetzt sehe ich die Köpfe meiner Mitschüler nicken; klar, Valerie bekommt wieder ihre eigene Arbeit, von Schwarze persönlich für sie entworfen, wahrscheinlich haben sie die Lösungen schon miteinander durchgesprochen, vor oder nach dem Vögeln. Es wäre nur ein Aufschub, keine Flucht, und was mich danach erwartet, male ich mir lieber nicht aus.
»So aufgeregt?«, scherzt mein Vater, als er mich vor meinem unberührten Toastbrot sitzend an meiner Kaffeetasse nippen sieht. In meinem Magen rumort es schon jetzt, als hätte ich einen ganzen Liter getrunken. »Englisch muss dir doch keine Angst machen, Kleines. Darin bist du doch spitze.«
»Ich verstehe Valerie.« Mama wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. »Dieser Druck, der heutzutage auf die Schüler ausgeübt wird, kann einem wirklich Angst machen. Willst du denn wenigstens ein Brot mitnehmen? Ihr macht doch sicher mal eine Pause, kein Mensch kann drei Stunden hintereinander konzentriert schreiben. Ich schmiere es dir auch, was möchtest du drauf haben?«
Nichts, schreit alles in mir; wenn ihr nur wüsstet, worin der Druck besteht, dem ich heute wirklich ausgesetzt bin; dagegen helfen weder Käse noch Salami, nicht einmal mit einem Salatblatt zwischen den Scheiben. Der Tag des Gerichts . Vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, an die Aufgaben zu gelangen, irgendwie. Es wenigstens versuchen. Damit die anderen sehen, dass ich mit ihnen solidarisch bin, auch wenn ich unseren Lehrer liebe. Sie wissen es ohnehin alle.
»Valerie?« fragt Mama erneut. »Möchtest du doch lieber Schinken? Oder Kräuterfrischkäse?«
Der Tag des Gerichts. Besorg uns die Aufgaben, wenn dir dein Leben lieb ist. Mamas Schulbrot als meine Henkersmahlzeit, wie kann sie jetzt an Essen denken; was sie mir drauf schmiert, ist so was von egal.
»Blutwurst«, bestimme ich lauter, als ich beabsichtigt habe. »Richtig schön frische Blutwurst. Das passt heute.« Dann stehe ich auf, um meine Tasche zu packen, und gehe noch früher los, als ich müsste.
Im Schulhaus herrscht eine unheimliche Stille. Die Klausur findet von der ersten bis zur dritten Stunde statt, und Frau Bollmann hat uns aufgefordert, mindestens eine Viertelstunde vor Beginn anwesend zu sein, damit genug Zeit sei, alles vorzubereiten und die Aufgabenstellung in Ruhe zu lesen und eventuelle Verständnisfragen zu klären. Mit »vorbereiten« meint sie, dass wir alle möglichst weit auseinander sitzen sollen, damit nicht abgeschrieben wird. Manchmal müssen dafür noch Tische umgestellt werden.
Weil wir so früh vor Ort sein sollen, sind noch kaum andere Schüler im Haus, die meisten trudeln immer erst in den letzten Minuten vor dem Stundenklingeln ein. Aber auch jetzt scheine ich eine der Ersten zu sein, kaum ein Laut dringt aus dem Klausurzimmer im Turm, selbst die Tür ist noch geschlossen. Ich drücke auf die Klinke, sie klemmt ein wenig, aber schließlich habe ich die Tür offen und trete ein.
Sie sind alle schon da. Der ganze Englisch-Leistungskurs, auch Alena. Sie stehen im Spalier und fixieren mich, wortlos, mit dunklen Blicken, bis auf Carla, die vorne an der Tafel steht und das heutige Datum anschreibt. Einen Moment lang überlege ich, ob ich kehrtmachen und fliehen soll, weg von hier, mich irgendjemandem anvertrauen, vielleicht einer entfernteren Person, jemandem, der den Durchblick hat und mir sagen kann, was ich tun soll. Mir fällt niemand ein. Die Tür fällt hinter mir zu; Patrick, der am dichtesten daneben steht, hält von innen die Klinke fest. Matthias tritt von einem Bein aufs andere,
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