Schwarzer, Alice
Ehemann, um den es hier geht, lernte sie am Telefon kennen: Sie hatte
sich verwählt. Wenig später zog er bei uns ein.
Ich kann mir vorstellen, warum sie auf ihn reingefallen
ist. Jeder, der ihn kannte, schwärmt: »War das ein charmanter Mann! So sanft
und einfühlsam. Und so intelligent.« Mich hat er auch um den Finger gewickelt -
anfangs.
Er war ein Physikstudent aus Ägypten. Aber er studierte
nicht viel. Ab und zu nahm er Dolmetscher-Jobs an, doch meist hing er zu Hause rum.
Den ganzen Tag saß er, von »Studienunterlagen« umgeben, auf der Couch. Was mir
gefiel. Ich war nicht mehr allein, meine Mama musste ja so viel arbeiten, ich
hatte nun endlich wieder einen Papa, der bei mir war. Mein Bruder Heiner
schimpfte mit mir: »Spinnst du? Der ist nicht unser Vater!« Die beiden hassten
sich von Anfang an, ich jedoch liebte ihn, diesen Mann.
Meine Mutter heiratete ihn noch im gleichen Jahr. Ich weiß
nicht mehr, ob es kurz vor oder kurz nach der Hochzeit gewesen ist, als der
sexuelle Missbrauch begann. Aber ich erinnere mich genau an den Moment. Zu
genau. Er holt mich zunehmend durch »Flashbacks« ein. Zuerst nur nachts im
Traum. Neuerdings auch tagsüber, wenn ich hellwach bin.
Damals war er noch nicht religiös. Den Vollbart ließ er
sich erst später wachsen. Er trug auch noch nicht die Gallabia, das
traditionelle ägyptische Männergewand. Meist behielt er seinen Schlafanzug
unter einem roten Bademantel an. Auch an diesem Tag. Wie schon so oft saß ich
auf seinem Schoß ... und dann ... Ich kann nicht darüber sprechen, es nicht in
Worte fassen, was er mit mir machte. Ich spürte, dass es falsch ist, aber ich
war ja erst vier und glaubte ihm, als er sagte: »Das ist ein neues Spiel. Ein
Spiel nur für uns beide. Unser Geheimnis.«
Er zog ein Stück Watte hervor, in das er eine widerliche
Spinne eingewickelt hatte - tot und getrocknet, aber mir kam sie quicklebendig
vor. Diese Spinne würde mich von nun an beobachten, behauptete er, und
aufpassen, dass ich unser Geheimnis nicht verrate. Immer wieder zeigte er mir
die Watte mit der Spinne. Das ging neun Jahre lang so. Eigentlich hätte dieser Mann - spätestens! - damit aufhören
müssen, als er ein von seiner eigenen Reinheit überzeugter Gläubiger geworden
war. Von morgens bis abends tyrannisierte er uns mit Gottesgesetzen - seine
Finger ließ er trotzdem nicht von mir.
Religiös wurde mein Stiefvater nach und nach. Es war ein
schleichender Prozess. Anfangs hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass er einer
anderen Religion angehörte. Wir sind auch nicht sonderlich fromm gewesen. Zwar
waren wir evangelisch, aber eigentlich glaubten wir nichts. Genau wie er. Er
las weder den Koran noch die Hadithe, er hat nie gebetet. Im Nachhinein, jetzt,
da ich's erzähle, fällt mir auf, dass die »Islamisierung« meines Stiefvaters
mit der Geburt seines Sohnes einsetzte.
Mein Bruder Abdul, der ersehnte Stammhalter, sieben Jahre
jünger als ich, musste natürlich in Kairo vorgezeigt werden. Kurz nach der
Niederkunft flogen wir alle hin. Die Großfamilie meines Stiefvaters war nicht
reich. Vermutlich haben sich seine Eltern das letzte Geld vom Munde abgespart,
um ihren ältesten Sohn zum Studieren nach Deutschland zu schicken. Seine Familie
war tief religiös, vor allem die Mutter, eine herrische Person. Jeden Wunsch
las sie meinem Stiefvater von den Augen ab. Seine fünf Schwestern und seine
beiden Brüder durfte er nach Lust und Laune herumkommandieren. In Deutschland
war er ein Versager, ein ewiger Student, der sich von seiner Frau aushalten
ließ, was er in Ägypten tunlichst verschwieg - dort stolzierte er wie ein
Gockel im Hühnerhof umher.
Nachdem wir nach Hause zurückgekehrt waren, gab er sich so
westlich wie eh und je. Allerdings brachte er mir nach meiner Einschulung im
Herbst 1982 das arabische Alphabet bei. »Damit du den Koran bald im Original
lesen kannst«, sagte dieser Mann. Mit sieben
Jahren musste ich seinen Nachnamen annehmen.
Adoptiert hat er mich nicht. Erst später erfuhr ich, dass
Moslems »gesetzliche Adoptionen« verboten sind. Grund: »Der Islam betrachtet
diese Art der Adoption als eine Verfälschung der natürlichen Ordnung und der
Wirklichkeit.« Worüber ich heute froh bin, weil mein Stiefvater, als es hart
auf hart kam, nicht das Sorgerecht für mich hatte.
Mein älterer Bruder musste nicht den Namen dieses Mannes tragen. Mit 13 durfte Heiner sogar
ausziehen. Er war ja kein leibliches Kind und zudem als Junge auch noch Konkurrenz
für
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