Schwarzer, Alice
Puppen und Bilderbücher zu
besitzen. Die hatten wir, ebenso einen Fernseher, aber den durften wir nicht
einschalten. Mit meinem Bruder Abdul verstand ich mich inzwischen gut. Wir
warteten immer darauf, dass dieser Mann das Haus
verließ. Dann machten wir den Fernseher an und wechselten uns am Wohnzimmerfenster
mit Wacheschieben ab.
Bei einem Besuch im Islamischen Zentrum Aachen, auch
Bilal-Moschee genannt, war Abdul gerade eingeschult worden. Das fand eine
Konvertitin ganz fürchterlich. »Wieso«, fragte meine Mutter, »gehen deine
Kinder denn nicht zur Schule?« Nein, selbstverständlich nicht! Obwohl die
Familie in Aachen lebte, hatte sie sich offiziell in Holland angemeldet, weil
es da keine Schulpflicht gibt. Die Kinder jedoch wurden hier in Deutschland
»privat von muslimischen Lehrern« unterrichtet.
Ich durfte zur Schule, sonst durfte ich nichts. Weder Romane
lesen noch ins Kino gehen oder Musik hören, nicht Kindergeburtstag feiern,
keine Freundinnen einladen, nicht durch die Stadt bummeln. Ich war eine
Gefangene. Umso befreiender waren die »Mädchentreffs« im Haus des Islam (HDI)
für mich. Die wurden in den Sommerferien veranstaltet. Meine Mutter brachte
mich im Auto hin und holte mich wieder ab. Eine Woche ohne diesen Mann, ohne den Horror und Terror zu Hause - das pure
Glück!
Das HDI in Lützelbach im Odenwald wird von dem deutschen
Konvertiten Wolfgang Borgfeld alias Muhammad Siddig geleitet. Wie ich heute
weiß, gibt er offen zu, dass er der fundamentalistischen Muslimbruderschaft
angehört. »Wir wollen keinen Larifari-Islam«, sagte er in einem Interview mit
dem Berliner Tagesspiegel. Und: Die
Polygamie sei »dem Mann im Islam erlaubt«. Auch wir besuchten oft einen Araber
mit zwei deutschen Ehefrauen: beide Akademikerinnen.
Den Islam-Unterricht im HDI erteilten deutsche Konvertitinnen:
Eva El-Shabassy vom syrischen IZ in Aachen und Amina Erbakan von der türkischen
Milli Görüs (IGMG). Das alles wusste ich damals noch nicht. Ich genoss es
einfach, mit anderen Mädchen in Schlafsäcken auf dem Fußboden zu übernachten.
Ich liebte die Waldspaziergänge, die wir ohne Erwachsene zu zweit oder zu dritt
machen durften. Einmal bin ich sogar mit einer Mädchengruppe vom HDI nach
England gefahren, um britische Muslime kennenzulernen. Man stelle sich vor: Wir
durften London in Dreier-Teams ohne Aufsichtsperson erkunden!
Im Hadith Nummer 669 steht: »Asma Bint Abi Bakr kam zu
Allahs Gesandtem, als sie durchsichtige Kleider trug. Da wandte Allahs
Gesandter sich von ihr ab und sagte: >Asma, wenn die Frau die Pubertät
erreicht, schickt es sich nicht, dass irgendetwas von ihr zu sehen ist, außer
diesem und diesem<, und er zeigte auf sein Gesicht und seine Hände.« Ich
hatte schon mit elf meine erste Monatsblutung bekommen, aber meinen Kopf begann
ich erst mit 13 zu verhüllen: freiwillig, aus eigenem Antrieb.
Im Haus des Islam trugen alle älteren Mädchen Kopftuch und
knöchellange Mäntel. Ich bewunderte sie. »Die sind erwachsen«, dachte ich: »Das
willst du auch sein!« Ich entschied mich nicht für die strenge Version mit
Stirnband, unter der kein einziges Haar hervorlugt; ich band das Kopftuch im
Nacken oder unter dem Kinn zusammen, mein Haaransatz war noch zu sehen. Einen
knöchellangen Mantel brauchte ich nicht, da mein Stiefvater mir ohnehin nur
eine viel zu weite, langärmelige, hochgeschlossene mausgraue Kleidung gestattete.
Von meinem Kopftuch war er begeistert, als ich aus dem
Odenwald zurückkam. Dieser Mann hatte
nicht damit gerechnet, dass ich, die nun Erwachsene, als er wieder das
»Spinnen-Spiel« mit mir spielen wollte, »Nein!« sagte. Das hat ihn so
erschüttert, dass der sexuelle Missbrauch schlagartig aufhörte. »Das Kopftuch
hat dir die Kraft gegeben, dich zu wehren«, meint meine Therapeutin heute.
In der Tat, das Kopftuch war meine Ritterburg. Plötzlich
erkannte ich, dass Frauen überhaupt nicht dümmer als Männer sind.
Eva El-Shabassy war Lehrerin, Amina Erbakan
Rechtsanwältin, eine der deutschen Gattinnen des polygamen Arabers Gynäkologin.
Ich beschloss, Medizin zu studieren, und wurde gut in der Schule - saugut.
Parallel zu meinen schulischen Erfolgen eskalierte die
Gewalt bei uns zu Hause. Jetzt, da dieser Mann seine
Finger von mir lassen musste, fing er an, mich zu schlagen. Ich weiß nicht,
wie viele hölzerne Kochlöffel und Kleiderbügel er auf mir zertrümmert hat. Aber
ich erinnere mich genau, dass ich jedes Mal keinen einzigen Mucks von mir gab.
Ich
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