Schwarzer, Alice
den Stammhalter Abdul. Unsere Oma, die Mutter meiner Mutter, nahm Heiner
bei sich auf. Dabei hatten wir sie jahrelang nicht mehr gesehen, denn dieser Mann hatte gleich nach der Hochzeit alle familiären
Kontakte unterbunden - auch den zum Bruder meiner Mutter und anderen
Verwandten.
Ich weiß noch, wie meine Mutter stumm dabei zuschaute, als
Heiner seine Sachen packte. Auch ich stand schweigend daneben. Ich war froh,
dass er ging, weil ich dann die Gewalt nicht mehr miterleben musste, die dieser Mann ihm antat. Als ob es gestern gewesen wäre, sehe ich
es heute noch vor mir, wie mein Bruder quer durchs Wohnzimmer geschleudert
wurde, sodass er zu fliegen schien. Heiners Kopf knallte gegen die
Schrankwand, auch das Geräusch höre ich heute noch.
Ich fühle mich schuldig, weil ich Heiner nicht half. Und
weil ich in den ersten Jahren Abdul gehasst habe, weil er mir jegliche
Aufmerksamkeit meiner Mutter raubte. Auch mein Stiefvater himmelte ihn an, aber
für das »Spinnen-Spiel« musste ich weiter herhalten. Im fünften Schuljahr
wechselte ich zur Realschule. Am Religionsunterricht hatte ich bereits als
Grundschülerin nicht teilnehmen dürfen - niemand erklärte mir, warum. Zum
Schwimmunterricht durfte ich in der Grundschule noch, doch auf der Realschule
plötzlich nicht mehr. Als Einzige in meiner Klasse nicht! Meine türkischen
Mitschülerinnen gingen schwimmen. Türkinnen hatten damals diese Probleme noch
nicht. Immerhin, der Sportunterricht wurde mir nicht verwehrt, obwohl der auch
»gemischtgeschlechtlich« war. Eine kurze Hose oder ein Trikot fand mein
Stiefvater »unanständig«, darum hatte ich beim Sport immer eine lange Hose mit
einem weiten, langärmeligen T-Shirt an. Die Teilnahme an Schulausflügen, im
vierten Schuljahr noch erlaubt, verbot mein Stiefvater mir ab dem fünften. Auch
eine Sonderregelung, die für mich ganz allein in meiner Klasse galt.
Ich weiß nicht mehr genau, wann meine Mutter begann,
Kopftuch zu tragen, und aufhörte, sich zu schminken. Ich meine gegen Ende
meiner Grundschulzeit. Ins Büro allerdings ging sie damals noch westlich
gekleidet. Als wir zum zweiten Mal nach Kairo flogen, hatte sie ihren Kopf mit
einem Tuch verhüllt, daran erinnere ich mich genau. Ihre wunderschönen langen
Haare dürfe kein anderer Mann sehen, meinte mein Stiefvater. Er selbst trug
Anzug und Krawatte.
Ich war elf und gerade ins sechste Schuljahr gekommen, als
meine Mutter wieder schwanger wurde. Mein Stiefvater zwang sie zu kündigen,
mich meldete er für sechs Monate von der Schule ab, denn wir - meine Mutter,
Abdul und ich - sollten bis zur Niederkunft und darüber hinaus in Kairo
bleiben. Dieser Mann brachte
uns hin und flog sofort wieder nach Deutschland zurück. Vorher befahl er seiner
Mutter, die weder Englisch noch Französisch sprach und schon gar nicht
Deutsch, mit mir den Koran auf Arabisch zu lesen. Ein Desaster! Sie las vor und
ich betete es nach, bis ich einige Suren auswendig konnte, ohne ein einziges
Wort davon zu verstehen.
Sonst hatte ich nicht viel zu tun, ich langweilte mich
unsäglich. Das Haus in der Nähe des Flughafens durfte ich nicht verlassen.
Hatte ich keinen »Koran-Unterricht«, hockte ich auf dem Flachdach, um
Flugzeugen beim Starten und Landen zuzuschauen. Die fünf Schwestern meines
Stiefvaters waren mittlerweile verheiratet worden; der jüngste Bruder, der
noch zu Hause wohnte, spielte oft mit mir. Ich mochte ihn sehr. Doch dann
verbot dieser Mann mir von
Deutschland aus den Umgang mit ihm.
Die Mutter meines Stiefvaters versuchte, für mich eine
Heirat zu arrangieren. Oh Gott, ich war doch erst elf! Meine Mutter ließ sich
nicht überreden, sie gab keinen Deut nach, lief zu ungeahnter Hochform auf.
Obwohl es ihr gesundheitlich extrem schlecht ging. Sie befürchtete eine
Fehlgeburt, darum buchte sie nach drei Monaten, ohne die Erlaubnis meines
Stiefvaters einzuholen, einen vorzeitigen Rückflug - sie bezahlte ja ohnehin
immer alles.
Nie werde ich vergessen, wie uns dieser Mann am Flughafen empfing. Zuerst hätte ich ihn fast
nicht wiedererkannt. Inzwischen hatte er sich einen Vollbart wachsen lassen, nun
trug er die Gallabia. Mein Mutter und mich würdigte er keines einzigen Blickes,
nur Abdul herzte und küsste er überschwänglich. Zu Hause stellte meine Mutter
entsetzt fest, dass er in den drei Monaten unserer Abwesenheit für mehrere
Tausend Mark telefoniert hatte. »Mit wem?«, fragte sie ihn. »Das geht dich
nichts an!«, brüllte er.
Ich konnte in dieselbe
Weitere Kostenlose Bücher