Schwarzer Koks (German Edition)
Flügeltüren auf. Gut hundert Tische füllten den Saal. Sie waren überladen mit weißen Decken, Silberbesteck, Seidenservietten, glitzernden Weingläsern, aufwändigen Speisekarten, Weinflaschen, rot und weiß. Der Saal begann sich zu füllen.
Der Präsident saß am ersten Tisch ganz vorne, umringt von einer Phalanx von Leibwächtern mit dunklen Anzügen und Im-Ohr-Empfängern. Lucia hatte ihn seit vielen Jahren nicht mehr persönlich gesehen, aber er sah so gut aus wie eh und je mit seinem gemeißelten Kinn, den hohen Wangenknochen, dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein im Blick. Nur die eine oder andere graue Strähne verriet sein Alter.
»Lucita!«, rief er aus und schob im Aufstehen zwei Leibwächter beiseite. Mit beiden Armen drückte er Lucia so fest an sich, dass sie schier zu zerbrechen meinte.
»Mein Gott, was bist du groß geworden«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Hier, komm, setz dich doch.« Er nahm wieder Platz und griff nach einer Flasche Rotwein. »Hier, trink was. Auf die alten Zeiten. Hier, probier mal. Ein wunderbarer Italiener. Wie geht es denn, meine Liebe.«
»Herr Präsident, ich weiß, Sie sind furchtbar beschäftigt–«
»Enrique, ich bin immer noch Enrique für dich.«
»Enrique, ich brauche Ihre–«
»Ich weiß, ich weiß. Sylvia hat mir alles erklärt. Ich muss jeden Augenblick meine Rede halten. Ich bin sicher, was ich zu sagen habe, wird dir gefallen.« Er zwinkerte ihr zu. »Wir unterhalten uns hinterher, ja?«
»Unter vier Augen?«
»Beim Essen, meine Liebe, beim Essen. Wir finden schon eine Lösung. Also, auf unsere Gesundheit.«
Er leerte sein Glas in einem Zug und wischte sich mit einer Serviette über die Lippen. Er sah Lucia an ihrem Glas nippen und wollte eben etwas sagen, als eine Stimme von der Bühne her das Programm des Abends zu verkünden begann. Der Präsident zwinkerte ihr noch einmal zu und wandte sich dann nach vorn. Lucia hatte es nicht mitbekommen, aber der Saal war mit einem Mal proppenvoll. Riesige Bildschirme auf beiden Seiten zeigten das Gesicht des Sprechers, einen älteren Herrn, in dem sie den ehemaligen kolumbianischen Vizepräsidenten erkannte.
Der Tisch des Präsidenten hatte sich mit dem Kabinett gefüllt, Leuten, die zu treffen Lucia vor einigen Wochen noch weiß Gott was gegeben hätte. Leuten, die sie jederzeit hätte sprechen können, wäre sie das brave kleine Mädchen ihres Vaters geblieben. Leuten, die sich von Herzen gern lieber mit ihr unterhalten hätten, anstatt aus dem Augenwinkel nach ihr zu schielen, seit ihre Familiengeschichte in Skandal, Geheimnis und Tod gehüllt war.
Lucia erwiderte die funkelnden Blicke.
Der Präsident sprach mit einem seiner Assistenten und blickte dabei auf die kleinen Karteikarten mit Notizen in seiner Hand.
Sie erhaschte den Blick von George Lloyd-Wanless. Er saß einige Tische weiter zu ihrer Linken. Er starrte sie voller Verachtung an. Sie widerstand der Versuchung, einfach hinüberzulaufen und ihm eine zu knallen.
Sie musste mit dem Präsidenten reden. Jetzt. Bevor es zu spät war. Bevor er wieder mit weiß Gott was beschäftigt war und sie vergaß. Sie streckte die Hand nach der Schulter des Präsidenten in einem letzten Versuch…
»… der Präsident der Republik Kolumbien«, tönte es aus den Lautsprechern.
Der Saal explodierte in tosendem Applaus. Der Präsident ging hinauf auf die Bühne. Wie auf einer Wahlveranstaltung winkte er der Menge zu. Lucia fluchte still in sich hinein. Sie hatte ihre Chance vertan. Sie würde ihn sich greifen müssen, sobald er fertig war. Sie musste ihn an sein Versprechen erinnern.
Eine Hand griff nach Lucias Arm.
»He!« Sie entwand sich dem Griff.
Es war der Mann, der als erster ihre Karte hatte sehen, der, der sie nicht hatte hereinlassen wollen. Er zog sie auf die Beine.
»Lassen Sie mich!«, sagte Lucia mit erhobener Stimme.
Die Leute am Tisch wandten den Blick ab in dem Versuch, die Szene zu ignorieren. Der Mann von der Security zerrte so heftig an ihr, dass sie um ein Haar umgefallen wäre. Der Beifall erstarb. Der Präsident stand vor dem transparenten Rednerpult und warf einen zufriedenen Blick durch den Saal. Als der Ordner sie durch die Tischreihen zerrte, erhaschte sie den triumphierenden Blick von Sir George.
»Meine Damen und Herren«, sagte der Präsident. »Wir sind heute Abend hier zusammen gekommen, um der Opfer des Drogenkriegs zu gedenken, der unser Land schon viel zu lange in seinen Klauen hat.«
Sie waren fast an der
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