Schwarzer Mond: Roman
der Fall oder nicht.«
»Die Einschusswunde im Fleisch beweist mir, dass die Kugel das Brustbein getroffen haben muss, Vater, und ich fand sie im Gewebe auf der anderen Seite des Brustbeins; sie muss also ... irgendwie ... den Knochen durchdrungen haben, ohne ihn zu beschädigen, was natürlich unmöglich ist. Und doch war da nur die Einschusswunde, das unbeschädigte Brustbein direkt unter der Wunde -und die Kugel im Gewebe hinter dem Brustbein. Völlig rätselhaft, wie sie dorthin gekommen ist. Aber es geht noch weiter: Die Einschusswunde der zweiten Kugel war direkt über der vierten Rippe auf der rechten Körperseite, aber auch diese Rippe war unbeschädigt, obwohl sie hätte zerschmettert sein müssen.«
»Vielleicht irren Sie sich«, sagte Stefan, indem er den Advocatus diaboli -den >Anwalt des Teufels< -spielte. »Vielleicht drang die Kugel doch etwas tiefer ein, zwischen den Rippen.«
»Nein.« Sonneford hob den Kopf, blickte Stefan aber nicht an. Das sichtliche Unbehagen des Arztes war eigenartig und ließ sich durch seinen bisherigen Bericht nicht erklären. »Ich mache keine diagnostischen Fehler. Außerdem lagerten die Kugeln im Patienten genau an jenen Stellen, wo sie sich hätten befinden müssen, wenn sie gegen jene Knochen geprallt, sie durchschlagen und schließlich im Muskelgewebe ihre Restenergie eingebüßt hätten. Aber zwischen dem Eintrittspunkt und den Kugeln war das Gewebe völlig unbeschädigt, was einfach unmöglich ist. Kugeln können nicht die Brust eines Menschen durchdringen, ohne eine Spur zu hinterlassen.«
»Es sieht also fast so aus, als hätten wir es mit einem kleinen Wunder zu tun.«
»Einem kleinen? Mir sieht das verdammt nach einem großen Wunder aus.«
»Wenn nur eine Arterie und eine Vene verletzt waren und beide nur leicht geritzt wurden -wie konnte Tolk dann so viel Blut verlieren? Waren diese Ritze dafür groß genug?«
»Nein. Diese Verletzungen hätten keinen so enormen Blutverlust zur Folge haben können.« Der Chirurg verstummte. Er schien in den Klauen einer dunklen Furcht zu stecken, die Stefan nicht begreifen konnte. Wovor fürchtete er sich? Wenn er glaubte, Zeuge eines Wunders geworden zu sein, hätte er doch eigentlich jeden Grund zur Freude.
»Doktor, ich weiß, dass es für einen Mann der Wissenschaft, für einen Mediziner, schwierig ist zuzugeben, dass er etwas gesehen hat, das er mit all seinem Wissen nicht erklären kann, etwas, das in Widerspruch zu allem steht, was er für unumstößliche Tatsachen hielt. Aber ich bitte Sie, mir alles zu erzählen, was Sie sahen. Was verschweigen Sie mir? Wie konnte Winton Tolk so viel Blut verlieren, wenn seine Verletzungen so geringfügig waren?«
Sonneford warf sich in seinem Stuhl zurück. »Nach den ersten Transfusionen begann ich mit der Operation. Die Lage der Kugeln war auf den Röntgenaufnahmen deutlich zu sehen, und ich nahm die notwendigen Schnitte vor, um sie zu entfernen. Dabei entdeckte ich ein kleines Loch in der oberen Mesenteriumarterie und einen weiteren kleinen Riss in einer der oberen Interkostalvenen. Ich war überzeugt davon, dass es noch andere beschädigte Blutgefäße geben musste, aber ich konnte sie nicht gleich finden, deshalb klemmte ich die Mesenteriumarterie und die Interkostalvene ab und beschloss, die Suche nach weiteren Verletzungen fortzusetzen, nachdem diese beiden geflickt sein würden, was eine einfache Sache war und nur wenige Minuten dauern würde. Ich nähte zuerst die stärker verletzte Arterie, und dann ...«
»Und dann?« drängte Vater Wycazik sanft.
»Nachdem ich die Arterie rasch genäht hatte, wandte ich mich der Interkostalvene zu ... und der Riss war verschwunden!«
»Verschwunden«, wiederholte Stefan. Ein andächtiger Schauerüberlief ihn, denn so etwas Ähnliches hatte er erwartet - und doch war es eine Enthüllung von solch überragender Bedeutung, dass seine Hoffnungen noch übertroffen wurden.
»Verschwunden«, bestätigte Sonneford und blickte Stefan nun endlich direkt ins Gesicht. In den wässrigen grauen Augen des Chirurgen war ein undeutlicher Schatten zu sehen, so als bewegte sich in den Tiefen eines trüben Sees ein Ungeheuer - ein Schatten der Furcht, und Stefan sah nun bestätigt, dass das Wunder aus unerklärlichen Gründen dem Arzt Angst einjagte.
»Die angerissene Vene heilte von allein, Vater. Ich weiß, dass der Riss vorhanden war. Ich hatte ihn selbst abgeklemmt. Meine OP-Schwestern sahen ihn ebenfalls. Aber als ich ihn nähen wollte, war
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