Schwarzer Mond: Roman
nicht viel länger verborgen bleiben.
Es schien geradezu lächerlich, dass ein Riesenkerl wie Ernie Block vor irgend etwas Angst haben sollte. Er war einen Meter dreiundachtzig groß und von so kräftiger Statur, dass sein Familienname eine überaus treffende Beschreibung seines Aussehens lieferte. Seine drahtigen grauen Haare waren so kurz geschnitten, dass an manchen Stellen die Kopfhaut hindurchschimmerte, und seine scharfen Gesichtszüge wirkten wie aus Granit gemeißelt, aber dennoch sehr sympathisch. Sein Stiernacken, die breiten Schultern und der enorme Brustkorb verliehen ihm das Aussehen eines Schwergewichtlers. Als er der Football-Star seiner High School gewesen war, hatten die anderen Spieler ihm den Spitznamen >Bulle< gegeben, und während seiner achtundzwanzigjährigen Laufbahn bei den Marines -er hatte vor nunmehr sechs Jahren seinen Abschied von der Truppe genommen -hatten die meisten Leute ihn mit »Sir« angeredet, sogar manche rangmäßig Gleichgestellte. Sie wären überaus erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätten, dass Ernie Block in letzter Zeit jeden Tag schweißnasse Hände bekam, sobald der Sonnenuntergang nahte.
Mit der festen Absicht, nicht an den Sonnenuntergang zu denken, machte sich Ernie nun also bis Viertel vor vier an der Empfangstheke zu schaffen. Das Tageslicht war inzwischen nicht mehr honigfarben, sondern ein Mittelding zwischen Bernstein und Orange, und die Sonne senkte sich nach Westen zu.
Um vier Uhr trafen die ersten Gäste ein, ein Ehepaar in seinem Alter, Mr. und Mrs. Gilney, die sich nach einer Woche in Reno, wo sie ihren Sohn besucht hatten, auf der Heimfahrt nach Salt Lake City befanden. Er plauderte mit ihnen und war enttäuscht, als sie ihren Schlüssel nahmen und sich zurückzogen.
Das Sonnenlicht war jetzt völlig orange, ohne jede Spur von Gelb. Die hoch am Himmel dahinziehenden vereinzelten Wolken verwandelten sich von weißen Segelschiffen in rotgoldene Galeeren, die über das Große Becken hinweg gen Osten glitten.
Zehn Minuten später nahm sich ein kränklich aussehender Mann, der im Auftrag des Amtes für Landvermessung diese Gegend bereiste, ein Zimmer für zwei Tage.
Wieder allein, versuchte Ernie, nicht auf die Uhr zu schauen.
Ebenso versuchte er, nicht auf die Fenster zu schauen, denn hinter den Glasscheiben verblutete allmählich der Tag.
Ich werde nicht in Panik geraten, sagte er sich. Ich war im Krieg, ich habe das Schlimmste gesehen, was ein Mensch überhaupt sehen kann, und - bei Gott! - ich bin immer noch hier, so groß und stark wie eh und je, da werde ich mich doch nicht erschüttern lassen, nur weil die Nacht hereinbricht! Gegen zehn vor fünf war die Sonne nicht mehr orange, sondern blutrot.
Sein Herz begann schneller zu schlagen, und er hatte das Gefühl, als verwandle sich sein Brustkorb in einen Schraubstock, der seine lebenswichtigen Organe gnadenlos zusammenpresste.
Er ging zum Schreibtisch, setzte sich auf den Stuhl, schloss die Augen und machte einige Atemübungen, um sich zu beruhigen.
Er schaltete das Radio ein. Manchmal half Musik. Kenny Rogers sang von Einsamkeit.
Die Sonne erreichte den Horizont und kam langsam ganz außer Sicht. Der karmesinrote Nachmittag verblasste zu Stahlblau, dann zu einem leuchtenden Purpur, der Ernie an das Tagesende in Singapur erinnerte, wo er als junger Rekrut zwei Jahre stationiert gewesen war und vor der Botschaft Wache gestanden hatte.
Sie brach herein. Die Dämmerung.
Dann, noch viel schlimmer, die Dunkelheit.
Die Lichter im Freien -darunter auch das grüne und blaue Neonschild, das von der Autobahn gut zu sehen war - hatten sich automatisch eingeschaltet, aber dadurch fühlte Ernie sich auch nicht besser. Die Morgendämmerung lag in unendlich weiter Ferne. Jetzt regierte die Finsternis.
Mit dem ersterbenden Tageslicht sank die Außentemperatur unter den Nullpunkt. Es wurde kühl im Büro, und die Ölheizung schaltete sich häufiger ein. Aber Ernie Block schwitzte am ganzen Körper.
Um sechs Uhr kam Sandy Sarver vom Tranquility Grille, westlich des Motels gelegen, auf einen Sprung vorbei. Es war eine kleine Imbissstube mit begrenzter Speisenauswahl, wo den Motelgästen und den hungrigen LKW-Fahrern, die hier kurz Rast machten, Mittag-und Abendessen serviert wurde. (Das Frühstück für Gäste - süße Brötchen und Kaffee - war im Preis inbegriffen und wurde, wenn man am Vorabend Bescheid sagte, aufs Zimmer gebracht.) Die zweiunddreißigjährige Sandy und ihr Mann Ned führten das
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